Ziemlich schnell begriff er, daß er mit seinen Ambitionen weit übers Ziel hinausgeschossen und seine Angebetete eines jener bemerkenswerten Geschöpfe war, deren Aufgabe es nicht war, einem einzelnen Menschen, sondern der gesamten Menschheit Trost zu spenden. Beinah zufrieden zog Arno sich zurück und beschloß, ihr ein Leben lang zu Diensten zu stehen.
Im Grunde genommen war es eher dem Zufall zuzuschreiben, daß er sie überhaupt kennengelernt hatte, wie auch seine Ankunft in Golden Windhorse mehr oder minder dem Zufall zu verdanken war. Er war mutterseelenallein auf dieser Welt. Seine Mutter, mit der er zusammenlebte, seit sein Vater vor gut dreißig Jahren abgehauen war, war vor kurzem gestorben. Unverdienterweise war sie langsam und unter Schmerzen gestorben. Sie war eines der sanftmütigsten Wesen gewesen, das er je gekannt hatte. Verbittert, verzweifelt und einsam blieb er zurück. Nach der Beerdigung hatte er sich wie ein verwundetes Tier in das kleine Reihenhaus in Eltham zurückgezogen. Er aß gerade so viel, daß er nicht verhungerte, wusch sich gerade noch so oft, daß er einigermaßen zivilisiert aussah, wenn er mal einkaufen ging. Mit Ausnahme des Verkäufers sah er wochenlang keine Menschenseele, zumal er seine Stelle bei der Water Board Authority aufgegeben hatte, um seine Mutter gegen Ende ihrer Krankheit zu pflegen.
Einen Großteil seiner Tage verbrachte er zusammengerollt auf dem Bett, mit tränennassen Wangen, ein Bündel aus dunklem, alles verzehrendem Schmerz. Salzwasser lief ihm in die Ohren, seine Nase war verstopft, seine Kehle heiser. Die Freunde seiner Mutter - und sie hatte nicht wenige gehabt - pflegten ans Fenster zu klopfen und ihn zum Essen einzuladen, wenn sie ihm mal auf der Straße begegneten. Manchmal fand er kleine Kartons mit Dosensuppen und Milchpulver auf seiner Türschwelle. Wochen verstrichen, in denen er nur selten aufstand. Die Jalousien waren permanent heruntergelassen. Tage gingen in Nächte über. Allein ein schmaler Streifen Licht über dem Fensterbrett kündete vom Lauf der Zeit. Irgendwann briet er ein paar Speckstreifen - wie er annahm - zum Frühstück, nur um festzustellen, daß es drei Uhr früh war.
Dann, eines Nachmittags, begann er wieder zu lesen. Er machte sich Kaffee, und anstatt wie gewöhnlich ins Bett zurückzukehren, setzte er sich an den Küchentisch, öffnete eine Schachtel Kekse, die ihm ein Unbekannter geschenkt hatte, und schlug Little Dorrit auf. Er und seine Mutter hatten viktorianische Romanciers geliebt, doch sie hatte Trollope den Vorzug gegeben.
Später an jenem Tag, nach dem Einkauf, hatte er ein Antiquariat besucht und eine Zeitlang in der Philosophieabteilung herumgestöbert. Rückblickend gesehen meinte er, auf der Suche nach einer Erklärung für die lange Krankheit seiner Mutter gewesen zu sein. Dies war ihm natürlich nicht vergönnt gewesen. Er hatte ein halbes Dutzend Bücher mit nach Hause genommen. Ein paar waren so abstrus gewesen, daß er überhaupt nichts kapiert hatte, andere so umwerfend dumm, daß er gelacht hätte, wäre er dazu in der Lage gewesen.
Kurze Zeit später besuchte er verschiedene spirituelle Treffen, bei denen er - seine Mutter offenbarte sich ihm leider nicht - ein gewisses Maß an Trost fand, paradoxerweise, indem er andere beim Leiden beobachtete. Ein paar der Anwesenden hatten kleine Kinder verloren, und der Anblick ihrer zornigen Mienen und des Spielzeugs, das sie ab und an mitbrachten,'um die Schatten ihrer geliebten Kleinen zu rufen, half Arno, den eigenen Verlust zu relativieren. Wenigstens war seine Mutter fast achtzig Jahre alt geworden und - durfte man ihren Worten Glauben schenken - lebensmüde gewesen.
Nach und nach verwandelte sich Arnos stechender Schmerz in dumpfes, erträgliches Leid. An seiner Einsamkeit änderte das nichts; die oberflächlichen Unterhaltungen, die sein Schicksal waren, brachten keine Linderung. Er gierte nach einer tieferen, intimeren Freundschaft, ohne daß er eine Ahnung hatte, wie man so etwas wie menschliche Nähe herstellte. Sein einziges Hobby (Lesen) verbot ihm, den allgegenwärtigen Rat zu befolgen, sich einer Gruppe mit gleichem Interesse anzuschließen. Nichtsdestotrotz hatte er das Gefühl, jene vage und zögerliche Freundlichkeit, die er der Welt inzwischen entgegenbrachte, nähren zu müssen. So kam es, daß er sich für einen Literaturkurs an der nächstbesten technischen Hochschule einschrieb.
Auf dem Heimweg - er hatte sich gerade angemeldet - machte er einen kurzen Stop bei Nutty Notions, um Honig zu kaufen. Sein Blick fiel auf eine Karte am Anschlagbrett, auf der ein okkultes Wochenendseminar mit dem Titel »Nachrichten von Ihren Lieben« angeboten wurde. Ob der wohltuende Klang des Wortes »Lieben« oder die reizvolle Möglichkeit, seinem freudlosen Heim für ein Wochenende entfliehen zu können, den Ausschlag für seine Entscheidung gab, wußte Arno nicht zu sagen. Der Kurs war relativ teuer (von den Angeboten im Fenster des Reisebüros wußte er, daß er für dieselbe Summe eine Woche nach Spanien reisen könnte), aber er hoffte, daß das Seminar ihm die Möglichkeit bescherte, neue Menschen kennenzulernen.
Wie es sich herausstellte, bekam der erstklassige Channeller (ein Hopi-Indianer) eine ganz gewöhnliche Grippe, aber »Der Mensch - die kosmische Zwiebel!« erwies sich als eine nicht gänzlich uninteressante Alternative für den aufrichtigen Sucher.
Die Eröffnungsrede wurde von Ian Craigie, dem Gründer der Kommune, gehalten. Die Vorstellung, tief im Innern eine Art vielschichtiges, von Gott beseeltes Wesen zu sein, beeindruckte und amüsierte Arno. Er genoß die Gesellschaft der anderen Gäste und war entzückt über die Vielfalt der angebotenen Heilkurse: Farbtherapie, Harmonische Einstellung, Zerreiß dein negatives Skript, Die Reinigung und Pflege deines astralen Körpers. Im Preis für das Wochenende war eine erste Konsultation inbegriffen, und Arno war schon kurz davor gewesen, sich auf die Harmonische Einstellung einzulassen, als die Tür dessen, was er nun als Solar kannte, aufging und Miss May Cuttle in einem regenbogenfarbenen Taftgebilde heraustrat.
Niemals würde er vergessen, wie er sie das erste Mal gesehen hatte. So hochgewachsen, mit glänzendem rostbraunem, über die Schulter fallendem Haar. Ihre Gesichtszüge waren von atemberaubender Symmetrie. Die Spitze ihrer großen, leicht gekrümmten Nase hob sich deutlich gegen die gepuderte, olivfarbene Oberlippe ab, die ein ganz feiner, seidiger Bart zierte. Sie hatte flache, breite Wangenknochen, und ihre Augen mit den durchsichtig wirkenden Pupillen, die Bernsteinkreisen glichen, standen leicht schräg.
Nach dem Abendessen spielte sie Cello. Verzaubert vom leichten Bogenstrich und der blumigen, gefühlvollen Musik, die zu den hohen Deckenbalken aufstieg, dämmerte es Arno, daß er sie nicht nur liebte, sondern daß dem auf eigenartige und unerklärliche Weise schon immer so gewesen war. Er fand heraus, was ihr Thema war (Heilung durch Farbe), schrieb sich für einen Workshop ein und ergötzte sich an ihrem enthusiastischen, menschlichen und großzügigen Wesen. In Windeseile wußte sie über seine Aura, Bekleidung, Schlafgepflogenheiten, Ernährung und seine Einstellung zum Kosmos Bescheid. Arno besuchte drei weitere Seminare, verkaufte sein Haus und zog für immer nach Manor House.
All dies lag achtzehn Monate zurück, und das Glück, das er bei seinem ersten Besuch empfunden hatte, hatte sich als steigerungsfähig erwiesen. Nach und nach streifte er seine Einsamkeit - ein rundes, undurchdringliches kleines Päckchen -wie eine alte Haut ab, hing ihr noch eine Weile halbherzig nach, um sie eines schönen Tages endgültig abzuschütteln.
Von den damaligen Mitgliedern der Kommune waren heute nur noch May und der Meister übrig. Die anderen hatten sich - wie das bei Rezipienten oftmals der Fall ist - anderen Gruppen angeschlossen oder sich zurückgezogen. Neue Mitglieder waren an ihre Stelle getreten. Mittlerweile prosperierte die Lodge so sehr, daß die Habenseite ihnen erlaubte, Bedürftigen finanziell unter die Arme zu greifen. In einigen Monaten konnten sie sogar eine kleine Summe nach Eritrea oder - je nachdem, wo gerade Not herrschte - an einen anderen Ort überweisen.
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