Es war ein naßkalter Tag. Ellery und sein Vater schlugen ihre Mantelkragen hoch, während sie in Richtung Broadway gingen. Beide waren ungewöhnlich schweigsam, aber der gespannte und erwartungsvolle Ausdruck auf ihren Gesichtern
– trotz ihrer Verschiedenheit in seltsamer Übereinstimmung – versprach einen aufregenden und aufschlußreichen Tag.
Der Broadway mit seinen gewundenen Straßenschluchten lag verlassen da im kalten Morgenwind, als die beiden Männer flotten Schrittes die 47. Straße in Richtung des Römischen Theaters hinuntergingen. Ein Mann im groben Wollmantel lungerte auf dem Bürgersteig vor den Glastüren zur Vorhalle des Theaters herum; ein anderer hatte sich gemütlich gegen den hohen Eisenzaun gelehnt, der den linken Seitengang von der Straße trennte. Die untersetzte Gestalt von Louis Panzer, der gerade mit Flint sprach, war vor dem Haupteingang des Theaters zu erkennen.
Aufgeregt schüttelte Panzer die Hände der Queens. »Gut, gut!« rief er. »Das Verbot soll also endlich aufgehoben werden. Freut mich außerordentlich, das zu hören, Inspektor.«
»Oh, es ist noch nicht endgültig aufgehoben, Panzer. Haben Sie die Schlüssel? Morgen, Flint. Etwas Ruhe gehabt seit Montag?«
Panzer zog einen schweren Schlüsselbund hervor und schloß den Haupteingang zur Vorhalle auf. Die vier Männer traten hinein. Der dunkelhäutige Geschäftsführer machte sich nun am Schloß der inneren Eingangstür zu schaffen; schließlich gelang es ihm, sie zu öffnen. Im Dunkeln lag vor ihnen der Zuschauerraum.
Ellery schauderte. »Mit Ausnahme der Metropolitan Opera und des Titusmausoleums ist das der düsterste Ort, den ich je betreten habe. Eine passende Grabstätte für den lieben Dahingeschiedenen …«
»Red doch keinen Quatsch! Du machst uns nur nervös damit«, brummte der Inspektor prosaisch und schubste seinen Sohn nach vorne in den dunklen Schlund des Zuschauerraums.
Panzer, der bereits vorausgeeilt war, betätigte den Hauptlichtschalter. Durch das Licht der großen Bogenlampen und Kronleuchter nahm der Zuschauerraum eine etwas vertrautere Gestalt an. Ellerys seltsamer Vergleich war aber nicht ganz so aus der Luft gegriffen, wie es sein Vater hingestellt hatte. Die langen Sitzreihen waren mit schmutzigen Planen abgedeckt; dunkle Schatten zogen sich über den bereits staubigen Teppich; die nackte weiße Wand am hinteren Ende der leeren Bühne wirkte wie ein häßlicher Fleck in einem Meer von rotem Plüsch.
»Tut mir leid, die ganzen Planen da zu sehen«, brummte Queen zu Panzer hinüber. »Denn die müssen wir wohl alle aufrollen. Wir werden eine kleine Durchsuchung des Zuschauerraums vornehmen. Flint, holen Sie bitte die beiden Leute von draußen herein. Sie sollen für das Geld, das ihnen die Stadt zahlt, auch einmal etwas tun.«
Flint zog ab und kam unmittelbar darauf mit den beiden Polizisten, die vor dem Theater Wache gestanden hatten, zurück. Unter Anleitung des Inspektors begannen sie, die riesigen Planen auf die Seite zu ziehen und so Reihe um Reihe der gepolsterten Sitze zu enthüllen. Ellery, der seitwärts nahe dem äußersten linken Gang stand, zog das kleine Buch, in das er am Montag abend Notizen sowie einen groben Plan des Theaters aufgezeichnet hatte, aus der Tasche. An seiner Unterlippe nagend, vertiefte er sich darin. Gelegentlich schaute er auf, so als würde er die Aufteilung des Theaters auf ihre Richtigkeit hin überprüfen.
Queen hastete zu Panzer zurück, der nervös im Hintergrund des Zuschauerraums auf und ab ging. »Panzer, wir werden hier einige Stunden lang ziemlich beschäftigt sein; leider war ich nicht vorausschauend genug, ein paar zusätzliche Männer mitzubringen. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen damit nicht zu viel zumute … Ich hätte da etwas, was sofort erledigt werden müßte – es würde nur einen kleinen Teil Ihrer Zeit beanspruchen, mir aber erheblich helfen.«
»Selbstverständlich, Inspektor!« erwiderte der kleine Manager. »Ich freue mich, Ihnen behilflich sein zu können.«
Der Inspektor hustete. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich Sie als Botenjunge oder etwas in der Art mißbrauchen will«, erklärte er entschuldigend. »Aber ich brauche diese Burschen hier, die für eine solche Art von Durchsuchung ausgebildet sind, und gleichzeitig muß ich ein paar extrem wichtige Unterlagen von zwei Leuten des Staatsanwalts, die unten in der Stadt einer anderen Spur in diesem Fall nachgehen, haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, einem der beiden – er heißt Cronin – eine Nachricht von mir zu überbringen und dann mit dem Päckchen, das er Ihnen geben wird, zurückzukehren? Ich bitte Sie wirklich nicht gerne darum, Panzer«, murmelte er, »aber die Sache ist zu wichtig, um sie einem gewöhnlichen Boten anzuvertrauen. Ich sitz’ also in der Klemme.«
Das gewohnte flüchtige Lächeln erschien auf Panzers Gesicht. »Kein Wort mehr, Inspektor. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Wenn Sie die Nachricht sofort schreiben wollen – in meinem Büro ist alles, was Sie brauchen.«
Die beiden Männer zogen sich in Panzers Büro zurück. Fünf Minuten später betraten sie erneut den Zuschauerraum. Panzer hielt einen verschlossenen Umschlag in der Hand und eilte damit nach draußen. Queen sah ihm nach und wandte sich dann mit einem Seufzer Ellery zu, der sich auf die Lehne des Sitzes gesetzt hatte, auf dem Field ermordet worden war, und immer noch seine Bleistiftzeichnung zu Rate zog.
Der Inspektor flüsterte seinem Sohn einige Worte zu. Ellery lächelte und klopfte dem alten Mann beifällig auf die Schulter.
»Was hältst du davon, Sohn, wenn wir uns jetzt ein wenig von der Stelle bewegen?« sagte Queen. »Ich hab’ vergessen, Panzer zu fragen, ob er diese Mrs. Phillips erreicht hat. Wahrscheinlich hat er; sonst hätte er wohl etwas gesagt. Wo zum Donnerwetter ist sie bloß?«
Er winkte Flint heran, der den beiden anderen Polizisten bei der ermüdenden Arbeit half, die Planen zu entfernen.
»Ich hab’ heute morgen wieder eine dieser beliebten Beugeübungen für Sie, Flint. Gehen Sie auf den Balkon, und machen Sie sich dort an die Arbeit.«
»Wonach soll ich heute suchen, Inspektor?« grinste der breitschultrige Detective. »Ich hoffe doch, daß ich mehr Glück haben werde als Montag nacht.«
»Sie suchen nach einem Hut – nach einem hübschen, glänzenden Zylinder, so wie ihn die feinen Herren tragen«, verkündete der Inspektor. »Aber sollten Sie zufällig auf etwas anderes stoßen, rufen Sie uns!« Flint trottete die breite Marmortreppe zum Balkon hoch. Queen schaute ihm nach und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dem armen Kerl wird eine weitere Enttäuschung nicht erspart bleiben«, bemerkte er zu Ellery. »Aber ich muß absolut sichergehen, daß sich dort oben nichts befindet und daß Miller, der Platzanweiser, der Montag abend den Treppenaufgang beaufsichtigte, die Wahrheit gesagt hat. Komm schon, du Faulpelz!«
Widerstrebend legte Ellery seinen Mantel ab und steckte das Buch in seine Tasche. Der Inspektor wand sich aus seinem weiten Mantel und ging seinem Sohn den Gang entlang voraus. Seite an Seite begannen sie an dem einen Ende des Raumes mit der Durchsuchung des Orchestergrabens. Nachdem sie dort nichts gefunden hatten, kletterten sie wieder zurück in den Zuschauerraum und durchkämmten langsam und gründlich – Ellery nahm die rechte, sein Vater die linke Seite – das Theater. Sie klappten die Sitzflächen hoch, stachen mit langen Nadeln, die der Inspektor aus seiner Brusttasche hervorgezaubert hatte, in die Plüschpolster und knieten sich nieder, um jeden Zentimeter des Teppichs im Schein der Taschenlampe zu untersuchen.
Die beiden Polizisten, die inzwischen ihre Arbeit mit den Planen beendet hatten, begannen nun, die Logen zu durchsuchen – ein Mann auf jeder Seite des Theaters.
Eine lange Zeit machten die vier Männer schweigend weiter; in der Stille hörte man nur das etwas angestrengte Atmen von Inspektor Queen. Ellery arbeitete schnell und effektiv; sein Vater war langsamer. Wenn sie sich nach der Durchsuchung einer Reihe in der Mitte trafen, schauten sie sich bedeutungsvoll an, schüttelten die Köpfe und begannen aufs neue.
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