Fandorin winkte ungeduldig ab - erzähl endlich weiter, mir steht nicht der Sinn nach derlei Unfug, sollte das heißen.
»Jedenfalls hast du in einen Ameisenhaufen gestochen. Dein Bekannter, Gott hab ihn selig« - Surow wies in Richtung des Flusses, wo Porfirius Pyshow seine letzte Ruhestätte gefunden hatte -, »kam im Laufe des Tages gleich zweimal angefahren. Das zweite Mal gegen Abend ...«
»Was denn, hast du etwa die ganze Nacht und den ganzen Tag in der Bude gehockt?« staunte Fandorin. »Ohne Essen und Trinken?«
»Ach, ohne Essen halte ich es aus, solange genug zu trinken da ist. Und dafür war gesorgt.« Er klopfte auf den Flachmann in seiner Tasche. »Natürlich mußte ich eine Rationierung einführen. Pro Stunde zwei Schluck. War nicht einfach. Aber gegen das, was ich im Kokandkrieg, bei der Belagerung von Machram aushalten mußte, ist das gar nichts, davon erzähl ich dir später. Ein paarmal hab ich mich davongeschlichen, um mir die Füße zu vertreten und mein Pferd zu besuchen. Es war am Zaun vom Nachbarn angebunden. Gras hab ich ihm gerupft, ein bißchen mit ihm geredet, daß es sich nicht so langweilt, und dann ging’s zurück, auf Posten. Bei uns daheim hätten sie so ein herrenloses Pferd im Handumdrehen zur Seite geschafft, aber hier sind die Leute zu langsam im Kopf, die kommen nicht auf den Gedanken. An dem Abend hab ich meinen Falben ja dann noch gut gebrauchen können. Als Gott-hab-ihn-selig (Surow nickte wieder zur Flußseite hin) zum zweiten Mal vorgefahren kam, da sammelten sich deine Häscher zum Feldzug. Ein Bild für die Götter: Vornweg wie weiland Bonaparte Amalia in ihrer Kutsche, zwei kräftige Burschen auf dem Bock. Ihr nach in der Droschke Gott-hab-ihn-selig. Dann die offene Kalesche mit den beiden Lakaien. Und auf Abstand, im Schutz der dunklen Nacht, ich auf meinem Falben - gerade wie Denis Dawydow, der dichtende Husar. Vier durch das Dunkel geisternde Handtücher!«
Surow kicherte, während er einen kurzen Blick auf den roten Streifen längs des Flusses warf, der die aufgehende Sonne ankündigte.
»Sie fuhren in ein Hinterfinsterhausen, schlimmer als die Ligowka in Petersburg: heruntergekommene Häuser, Lagerschuppen, Dreck. Hier wechselte Gott-hab-ihn-selig in Amalias Kutsche - wohl um Kriegsrat zu halten. Ich band mein Pferd in irgendeinem Torweg an und harrte der Dinge. Gott-hab-ihn-selig betrat ein Haus mit Aushängeschild, blieb dort eine halbe Stunde. Währenddessen wurde das Klima ungemütlich. Ein Donnerwetter brach vom Himmel, es schüttete wie aus Kannen. Ich wurde pitschnaß, harrte aber aus - die Neugier! Gott-hab-ihn-selig erschien wieder, kroch zu Amalia in die Kutsche. Anscheinend ein weiteres Konzilium. Derweil regnete es mir in den Kragen, und der Flachmann war fast leer. Ich überlegte schon, ob ich ihnen einen Auftritt inszenieren sollte, eine Christuserscheinung, um die ganze Bande in die Flucht zu schlagen und Amalia zur Rechenschaft zu ziehen - da ging plötzlich der Kutschenschlag auf, und ich sah etwas, das nie wieder sehen zu müssen ich den lieben Gott von Herzen bitte.«
»Ein Gespenst«, vermutete Fandorin. »Ein leuchtendes?«
»Genau. Brrrr! Ich kriegte eine Gänsehaut. Daß es Ama- lia war, konnte ich nicht gleich glauben. Es wurde also wieder interessant. Erst ging sie in dasselbe Haus, kam zurück, lief auf den benachbarten Hof, dann verschwand sie noch mal hinter besagter Tür. Gefolgt von den Dienern. Kurze Zeit später geleiteten sie eine Art Sack auf Füßen aus dem Haus. Daß du es warst, den sie da geschnappt hatten, wurde mir erst später klar, vorläufig wäre mir das nicht im Traum eingefallen. Jetzt teilten sich die Truppen: Amalia und Gott- hab-ihn-selig nahmen die Kutsche, die Droschke fuhr leer hinterher, und die Kalesche mit den Dienern und dem Sack, also mit dir, rollte in die Gegenrichtung davon. Von mir aus, dachte ich, was geht mich der Sack an. Ich mußte Amalia retten, aus der schmutzigen Geschichte herausholen, in die sie sich eingelassen hatte. Ich also der Kutsche und der Droschke hinterher, auf leisen Hufen, tapp-tapp, tapp-tapp. Weit waren sie nicht gekommen, da hielten sie schon wieder. Ich saß ab, nahm die Stute bei der Kandare, damit sie bloß nicht wieherte. Gott-hab-ihn-selig kam aus der Kutsche gekrochen und sagte (die Nacht war so still, daß man es gut hören konnte): >Nein, Herzchen, da schau ich lieber noch mal nach. Ich hab so ein dummes Gefühl. Dieser Knabe ist doch gar zu helle. Sollten Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.< Ich war natürlich erst mal in Rage, von wegen Herzchen - diese vertrocknete Pfefferschote! Und dann ging mir ein Licht auf. War da etwa von dem lieben Erasmus die Rede?«
Surow wiegte stolz den Kopf, sichtlich zufrieden mit seiner Findigkeit.
»Der Rest ist schnell erzählt. Der Droschkenkutscher ist auf den Bock von Amalias Kutsche gewechselt. Ich bin hinter Gott-hab-ihn-selig her. Da, hinter der Ecke stand ich und wollte unbedingt rauskriegen, welche Suppe du ihm versalzen hast. Aber ihr habt zu leise gesprochen, es war rein gar nichts zu verstehen. Ich hatte nicht vorgehabt zu schießen, für einen guten Schuß war es sowieso viel zu dunkel, aber dann sah ich, daß er dich umlegen wollte - das sah ich ihm von hinten an. Dafür hab ich ein Auge, Bruder. Und was sagst du zu dem Schuß? Hat es sich nicht gelohnt, daß Surow mit Fünfkopekenstücken trainiert? Aus vierzig Schritt exakt auf den Scheitel, und das bei dem Licht!«
»Vierzig, na ja, wer weiß«, sagte Erast zerstreut, er war mit den Gedanken ganz woanders.
»Glaubst du mir nicht?« ereiferte sich Surow. »Dann zähl nach!« Er war schon dabei, die Strecke abzuschreiten (die Schritte vielleicht etwas knapp bemessend), Fandorin hielt ihn zurück.
»Und was hast du nun vor?«
»Was schon! Erst machen wir wieder einen ordentlichen Menschen aus dir, du klärst mich auf, was ihr hier eigentlich treibt, und nach dem Frühstück fahre ich zu Amalia. Ich schieße sie über den Haufen, die falsche Schlange, oder ich entführe sie. Du sag mir nur, ob ich dich als Verbündeten oder als Nebenbuhler anzusehen habe?«
»Tja, also, die Sache steht so«, begann Fandorin, die Stirn in Falten gelegt, und rieb sich müde die Augen. »Beistand benötige ich weiter keinen - Punkt eins. Erklären werde ich dir gar nichts - Punkt zwei. Amalia über den Haufen zu schießen wäre löblich, aber es könnte genausogut passieren, daß es dich erwischt - Punkt drei. Und den Nebenbuhler kannst du getrost vergessen - Punkt vier. Die Frau widert mich an.«
»Erschießen wäre wohl wirklich das Beste«, entgegnete Surow gedankenversunken. »Adieu, Erasmus. So Gott will, sehen wir uns wieder.«
Der auf die Erschütterungen der Nacht folgende Tag, so ereignisreich er war, kam Fandorin seltsam zerrissen vor - wie aus einzelnen, recht und schlecht miteinander verklebten Bruchstücken bestehend. Zwar schien es ihm so, als stellte er vernünftige Überlegungen an, faßte vernünftige Entschlüsse, handelte sogar - doch geschah all dies wie losgelöst von ihm und gleichsam außerhalb des Protokolls. Dieser letzte Tag im Juni prägte sich unserem Helden als ein Reigen greller Bilder ein, zwischen denen nichts als gähnende Leere war.
Zum Beispiel dieser Morgen am Themse-Ufer, bei den Docks. Freundliches, sonniges Wetter, die Luft nach dem Gewitter noch frisch. Fandorin sitzt auf dem Blechdach eines flachen Lagerhauses, in Unterwäsche, die nassen Kleider und die Stiefel neben sich ausgebreitet. Der eine Stiefelschaft hat einen langen Riß. Auch Geldscheine und der aufgeschlagene Paß trocknen an der Sonne. Fandorin, dem Wasser glücklich entronnen, hängt seinen Gedanken nach. Verworrenen, abschweifenden Gedanken, die doch immer wieder zum selben hinführen.
Sie nehmen an, daß ich tot bin, aber ich lebe - Punkt eins. Sie nehmen an, daß nun keiner mehr Bescheid weiß, aber ich weiß Bescheid - Punkt zwei. Das Portefeuille bin ich los - Punkt drei. Glauben wird mir kein Mensch - Punkt vier. Am ehesten werde ich ins Irrenhaus eingeliefert - Punkt fünf.
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