Da sprang Colgü voller Zorn auf, die Regeln des Gerichtsverfahrens mißachtend.
»Cashel steckt nicht hinter all diesen Machenschaften. Salbach hat selbst zugegeben, daß er der Schuldige ist. Dafür wird Cashel ihn bestrafen. Die Übeltaten des Fürsten der Corco Loigde können nicht Cashel zur Last gelegt werden!«
»Doch die Corco Loigde stehen im Treueverhältnis zu Cashel«, gab Forbassach höhnisch zur Antwort. »Wem sonst als Cashel kann also die Schuld zur Last gelegt werden?«
Barran hob beide Hände.
»Daß ihr beide euch nicht an die Regeln des Gerichtsverfahrens haltet, stimmt mich traurig. Daß ihr beide es nicht lassen könnt, euch vor mir zu streiten, verlangt Bestrafung. Colgü, dir wird eine Strafe von einem sed, dem Wert einer Milchkuh, auferlegt, weil du es nicht deiner ddlaigh überlassen hast, deine Argumente vorzutragen. Forbassach, du trägst die größere Schuld, weil du nicht nur juristisch ausgebildet, sondern auch der Anwalt deines Königs bist. Du zahlst einen cumal, den Wert von drei Milchkühen. Passiert das noch einmal, fallen die Strafen nicht so milde aus.«
Barran gab allen einen Augenblick Zeit, sich zu beruhigen, und ließ dann die beiden Jungen vor das cos-na-dala führen.
»Habe ich richtig verstanden, daß diese Jungen noch nicht das Alter der Wahl erreicht haben?« fragte er Midach.
»Das stimmt«, antwortete der Arzt und übernahm damit seine Rolle als ihr Pflegevater.
»Dann können wir ihrer Aussage keinerlei Gewicht beimessen«, seufzte der Oberrichter. »Sie dürfen zwar vernommen werden, doch wenn ihre Worte durch andere Zeugnisse bestritten werden, sind sie hinfällig. So lautet das Gesetz.«
»Das ist mir klar, Barran«, stimmte ihm Fidelma zu. »Falls Forbassach nichts einzuwenden hat, werde ich sie auch nicht als Zeugen aufrufen.«
»Ich würde es vorziehen, wenn Schwester Fidelma sich dem Mord an Dacan zuwenden würde«, erwiderte Forbassach.
»Dann werde ich das jetzt tun«, antwortete Fidelma. »Es kann nun als erwiesen gelten, daß Dacans Tod in ursächlichem Zusammenhang stand mit der Aufgabe, zu deren Lösung er nach Ros Ailithir gekommen war. Er wurde umgebracht, weil man glaubte, er stelle eine Bedrohung dar. Doch ich möchte auf eins hinweisen: Es stimmt, daß ein lebendiger Dacan für Salbach von größerem Wert war als ein toter Da-can. Wem also mußte Dacan als eine Bedrohung erscheinen? Offensichtlich den Kindern Illans, wie ich bereits früher sagte.«
Forbassach war erneut aufgesprungen.
»Und wie ich bereits früher sagte, Laigin bedrohte diese Kinder nicht. Es versuchte, ihnen zu helfen.«
»Aber wußten die Kinder das?«
Fidelmas Frage war schneidend und rief ein unsicheres Schweigen hervor.
Sie wandte sich Midach zu. Der sonst so fröhliche Arzt stand müde und erschöpft vor ihr.
»Dacan hatte zwei Monate lang in der Abtei seine Nachforschungen betrieben, bevor du erfuhrst, daß er nach deinen Pflegekindern suchte. Als du das entdecktest, bist du sofort aufgebrochen, um sie von Sceilig Mhichil wegzuholen. Du hast die Abtei am selben Abend verlassen, an dem Dacan getötet wurde, an dem Abend, an dem er seinem Bruder Noe schrieb, er wolle nach Sceilig Mhichil reisen.«
Barran schaltete sich ein und meinte Fidelma zuvorzukommen.
»Hast du Dacan getötet, Bruder Midach?«
»Dacan war am Leben, als ich die Abtei verließ«, erwiderte Midach mit leiser, aber fester Stimme.
»Das stimmt«, bestätigte Fidelma rasch. Der Oberrichter hob abwehrend die Hand.
»Woher willst du das wissen?«
»Ganz einfach. Wir wissen, daß Dacan gegen Mitternacht getötet wurde, bestimmt nicht früher. Mi-dach mußte gleich nach der Vesper an Bord seines Schiffes sein, damit es mit der abendlichen Ebbe nach Sceilig Mhichil auslaufen konnte. Ich habe die Gezeiten von den Seeleuten hier nachprüfen lassen. Wäre er länger hiergeblieben, hätte er erst am folgenden Morgen abreisen können.«
»Wer hat dann Dacan umgebracht?« Barran war völlig ratlos.
»Jemand, der wie Midach glaubte, daß Dacan den Kindern Illans Schaden zufügen wollte.«
Es herrschte Schweigen, denn jedem war klar, daß die lange Verhandlung nun der Enthüllung des Mörders zustrebte.
Fidelma war überrascht, daß niemand zu derselben Schlußfolgerung kam, die sie schon einige Zeit zuvor gezogen hatte. Als keiner sprach und keiner sich regte, sagte sie: »Nun - wer sonst als die Kinder Illans würde sich von Dacan bedroht fühlen? Wer sonst als der älteste Sohn, der stärker bedroht war als seine Brüder?«
Jeder blickte Cetach an.
»Aber du hast doch gerade gesagt, daß diese beiden Jungen zu der Zeit noch auf Sceilig Mhichil waren, also zwei bis drei Tage Schiffsreise von Ros Ailithir entfernt«, wandte Barran ein.
»Ich habe nicht gesagt, daß es einer dieser beiden Jungen war«, sagte Fidelma laut in das Stimmengewirr hinein.
Wieder wirkten ihre Worte wie ein Wasserguß auf Feuer. Verblüfftes Schweigen trat ein.
»Aber du hast doch gesagt ...«, begann der Oberrichter.
»Ich sagte, daß der älteste Sohn Illans Dacan umbrachte.«
»Dann ...?«
»Illan hatte drei Söhne. Ist es nicht so, Midach? Da-can schrieb in dem Brief an seinen Bruder, daß Illans ältester Sohn gerade das Alter der Wahl erreicht habe. Das schließt diese beiden Jungen aus, die bei weitem noch nicht siebzehn sind. Und es bedeutet auch, daß Illan noch einen dritten Sohn hatte.«
»Du scheinst alles zu wissen, Fidelma«, knurrte Midach grimmig. »Ja, mein Vetter Illan hatte drei Söhne. Sie alle wurden mir in Pflege gegeben, als Illan getötet wurde. Die beiden jüngeren waren bereits nach Sceilig Mhichil zu unserem Vetter Mel geschickt worden. Es stimmt, alles hat sich so ereignet, wie du es beschrieben hast.«
»Und wo ist der älteste Sohn?« wollte Barran wissen.
»Ich kann das Vertrauen meiner Familie nicht brechen«, sagte Midach.
»Der älteste Sohn wurde nach Ros Ailithir gebracht, aber unter falschem Namen«, schaltete sich Fidelma ein.
Sie wandte sich um, und ihr Blick suchte die Reihen der Nonnen ab, die dicht gedrängt in der Abteikirche saßen, bis er die weiße Maske entdeckte, in die sich das Gesicht von Schwester Necht verwandelt hatte.
»Komm nach vorn, Schwester Necht, oder sollte ich lieber Nechtan sagen?« fügte Fidelma hinzu und benutzte die männliche Form des Namens.
Die unbeholfene »Schwester« erhob sich, ihre Blik-ke flogen hierhin und dorthin, als suche sie einen Weg zur Flucht, dann sanken ihre Schultern resigniert herab.
Ein hochgewachsener Leibwächter des Großkönigs ging zu ihr, tippte der »Schwester« auf die Schulter und bedeutete »ihr«, sie solle vor die Richter treten. Langsam und widerwillig gehorchte »Schwester Necht«.
Kein Laut war zu hören, und alle Augen folgten der Gestalt, als sie langsam dorthin schritt, wo Fidelma sie erwartete. Die »Novizin« gab sich keine Mühe mehr, ihre männliche Haltung zu verbergen.
»Darf ich euch Nechtan vorstellen, den Sohn Illans von Osraige. Nechtan ist der ältere Bruder von Cetach und Cosrach.«
»Schwester Necht« straffte »ihre« Schultern und schob trotzig »ihr« Kinn vor, als »sie« vor Fidelma stand.
»Würdest du bitte deine Kopfbedeckung abnehmen?« sagte Barran.
»Schwester Necht« riß sich die Kopfbedeckung herunter.
»Das Haar ist kupferfarben, fast rot«, gab Forbassach in quengeligem Ton zu. »Aber diese ... diese Person ... sieht immer noch wie ein Mädchen aus.«
»Müssen wir diese Komödie noch weiterspielen, Nechtan?« fragte Fidelma. »Sag die Wahrheit.«
»Es ist alles vorbei, mein Junge«, rief Midach traurig und ohne Hoffnung. »Gestehen wir die Wahrheit ein.«
Der Junge mit dem kupferroten Haar starrte Fidelma mit beinahe haßerfülltem Blick an.
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