Es herrschte gespanntes Schweigen. Niemand sprach. Alle Augen waren auf Salbach gerichtet. Es war Schwester Grella, die die Stille mit einem Angstschrei brach, als sie zum erstenmal die Schrecklichkeit des Geschehenen begriff.
»Aber es stimmt nicht . Ich wußte doch nicht, daß Salbach . Ich wußte doch nicht, daß er sie töten wollte . Ich bin nicht verantwortlich für den Tod all dieser unschuldigen Kinder . Das bin ich nicht.«
Salbach wandte sich um und fuhr sie an, sie solle still sein.
»Als Dacan herausfand, wo sich die Erben Illans aufhielten«, sprach Fidelma schonungslos weiter, »lief Grella mit der Neuigkeit zu dir. Es war am Tag vor dem Tode Dacans. Er hatte festgestellt, daß der Vorsteher von Sceilig Mhichil, dem Kloster des Erzengels Michael, ein Vetter Illans war. Er hatte herausbekommen, daß die Erben Illans zu ihrer Sicherheit dorthin gebracht worden waren. Er schrieb es auf und setzte hinzu, daß er nach Sceilig Mhichil aufbrechen werde. Er wurde ermordet, bevor er seine Reise antreten konnte.«
»Woher wußte er das? Die hier aufbewahrten Aufzeichnungen sagen doch sicher nichts über den Aufenthaltsort der Erben Illans aus?« wollte der Oberrichter wissen.
»Seltsamerweise doch. Dacan fand das Testament Illans auf einigen Stäben der Dichter. Die Ironie der Geschichte liegt darin, daß Scandlan sich nach dem Tode Illans seiner Burg und seiner Habe bemächtigte, darunter auch seiner Bibliothek. In dieser Bibliothek befand sich das Testament, das er absichtlich in Og-ham auf Stäben der Dichter geschrieben hatte. Scand-lan konnte es nicht lesen und schickte es mit anderen Büchern zusammen als Geschenk an diese Abtei, die Hauptabtei der Corco Loigde.«
»Selbst dann«, wandte Barran ein, »hätte doch jeder erfahrene Gelehrte das Testament in Ogham lesen und es deuten können?«
»Illan war anscheinend ein gebildeter Mann, denn das Testament war verschlüsselt. Ich fand einen Stab aus dem Testament in Dacans Zimmer, wo er ihn unvorsichtigerweise hatte liegengelassen. Sein Mörder hatte ihn nicht bemerkt. Ich verfüge nur über einen kleinen Rest des Stabes und damit nur über ein kleines Stück des Testaments. Die anderen Stäbe wurden vernichtet.«
Sie holte den angebrannten Stab hervor, den sie in der Nacht zuvor aus der Gruft in der Kirche mitgenommen hatte.
»Nur dieses Stück ist übrig. Darauf steht: >Die Entscheidung des Ehrenwerten bestimmt die Pflegschaft meiner Kinder.<���«
»Das hört sich wie Kauderwelsch an«, lachte For-bassach.
»Nicht, wenn man den Code und den ganzen Text kennt. Auf dem Stab, den ich in Dacans Zimmer fand, stand außerdem: >Möge mein süßer Vetter für meine Söhne auf dem Felsen Michaels sorgen, wie es mein ehrenwerter Vetter bestimmen wird.<���«
»Noch mehr Kauderwelsch!« höhnte Forbassach.
»Dacan war nicht der Meinung. Er wußte, daß Scei-lig Mhichil der Felsen Michaels war. Es war leicht zu ermitteln, daß der Vorsteher dort Mel hieß. Der Name bedeutet >süß<. Mel war folglich Illans >süßer< Vetter!«
»Du läßt die Lösung des Rätsels sehr leicht erscheinen«, bemerkte der Oberrichter.
»Dann erlaube mir, später darauf zurückzukommen. Für jetzt genügt es, daß Dacan das Rätsel des Testaments entzifferte und sein Ergebnis auf einem Pergament niederschrieb. Schwester Grella las es und teilte es Salbach mit. Der schickte sofort Intat zum >Fel-sen Michaels<. Doch Illans Söhne waren nicht mehr dort. Intat erfuhr, daß zwei Söhne Illans auf dem Felsen gewesen und daß sie von einem Mönch abgeholt worden waren. Dieser Mönch war ein Vetter von Pater Mel.
Hier kam wieder Grella ins Spiel, sie hielt Salbach auf dem laufenden. Grella war inzwischen die Seelenfreundin von Schwester Eisten in Rae na Scrine geworden. Durch einen der Zufälle, wie sie nur zu oft im Leben vorkommen, war Eisten genau die Person, in deren Obhut die Söhne Illans gegeben worden waren, nachdem man sie von Sceilig Mhichil fortgeholt hatte. Man hatte sie in das Waisenhaus in Rae na Scrine geschickt. Schwester Eisten beging den größten Fehler ihres Lebens. Sie vertraute das Geheimnis ihrer Seelenfreundin Schwester Grella an.
Triumphierend berichtete Grella Salbach davon. Er wollte Eisten eine Falle stellen, indem er sie und ihre Waisenkinder in seine Burg einlud. Wenn er ihre Schützlinge erst einmal kannte . Nun, Eisten begleitete Grella, aber sie brachte die Kinder nicht mit. Im Dorf war die Gelbe Pest ausgebrochen, und sie wollte die Kinder nicht unnötig umherreisen lassen. Mit dieser Entscheidung rettete sie den Söhnen Illans das Leben, aber sie beschwor die Vernichtung des Dorfes herauf.
Salbach gab Intat den Befehl, nach Rae na Scrine zu reiten und die Kinder umzubringen. Das Problem war, daß Intat nicht genau wußte, wer sie waren. Brutal wie er war, entschied er sich, das ganze Dorf zu vernichten. Als ich und Cass dazukamen, versuchte er sein Verbrechen dadurch zu vertuschen, daß er behauptete, die Gelbe Pest herrsche im Dorf und er und seine Männer wären besorgte Nachbarn, die die Pest ausbrennen wollten. Schwester Eisten und einige Kinder überlebten.
Eisten stand unter Schock. Ich glaubte, der Tod der Dorfbewohner und besonders eines Babys, das sie zu retten versuchte, hätten sie so tief getroffen. In Wirklichkeit aber hatte sie den wahren Grund für das Morden erkannt. Sie wußte sogar, wer sie verraten hatte. Sie fragte mich, ob eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen könne. Ich hätte ihr besser zuhören sollen, dann wäre sie vielleicht nicht getötet worden. Ich hätte sie retten können. Kannst du mir bis hierher folgen, Salbach?«
Salbach schwieg. Er war offensichtlich entsetzt über ihre Kombinationsgabe und wußte, daß ihm wenig zu sagen blieb, außer der Wahrheit.
»Du besitzt einen scharfen Verstand, Fidelma. Ich hätte dich nicht unterschätzen dürfen. Ja, du hast recht. Es stimmt, was du bisher erzählt hast.«
»Als du in die Abtei kamst und feststelltest, daß Schwester Eisten mit mehreren Kindern überlebt hatte, konntest du es nicht wagen, es dabei zu belassen. Zweifellos auf deinen Befehl fing Intat Eisten ab, als sie unten am Hafen war. Er folterte sie, um herauszubekommen, wohin man die Söhne Illans gebracht hatte. Sie verriet nichts, also erschlug er sie und warf ihre Leiche ins Meer.
Wieder kam dir Grella zu Hilfe und fand heraus, daß einige der Kinder aus Rae na Scrine zum Haus Moluas gebracht worden waren. Die Leichen von drei Frauen und einem Mann und von zwanzig Kindern und die verkohlten Ruinen ihrer Häuser sind stumme Zeugen von Intats Besuch.«
»Ich leugne nichts. Aber ich erkläre bei meiner Ehre als Fürst, daß mein Vetter Scandlan von Osraige nichts von meinen Plänen wußte, die Königsherrschaft von Osraige für unsere Familie zu sichern. Auch Grella wußte das nicht. Sie trägt keine Schuld an dem Blut, das auf meine Anweisung vergossen wurde.«
Fidelma betrachtete Salbach mit unverhohlenem Abscheu. Es war für sie schwer zu begreifen, daß ein Mann die Verantwortung für soviel Tod und Verderben auf sich nahm und zugleich versuchte, aus einer pervertierten Auffassung von Ehre und Liebe heraus andere zu schützen. Aber es war eine seltsame Welt, und die Menschen waren die seltsamsten Geschöpfe darin.
Grella schluchzte jetzt ganz offen und rief: »Davon wußte ich nichts! Das wußte ich nicht!«
Fidelma sah sie ohne Mitleid an.
»Du warst so blind von deiner Liebe zu Salbach, daß du die Wahrheit nicht sahst. Ich gebe zu, daß das möglich ist, wenn auch schwer zu verstehen. Du wolltest nicht glauben, daß dein Liebhaber dazu fähig war, die Ermordung kleiner Kinder zu befehlen. Ich denke, in Wirklichkeit wolltest du gar nicht wissen, was um dich herum vor sich ging.«
An einer der Türen entstand Bewegung. Fidelma lächelte bitter, als sie sah, daß Scandlans Platz leer war. Der Oberrichter hatte es auch bemerkt, winkte ein Mitglied der fianna heran und erteilte ihm leise Anordnungen.
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