»Laß ihn von deinen Leuten verhören. Ich bin sicher, daß er Salbach in dieser Angelegenheit belasten wird. Wir müssen jetzt schnellstens Cass suchen.«
Colgü ließ sich von einem seiner Männer einen trockenen Mantel geben und legte ihn Fidelma um die Schultern. Sie zitterte vor Kälte und Nässe und wohl auch vor nervlicher Erschöpfung. Colgü half ihr aufs Pferd und erteilte Befehle. Als alle aufgesessen waren, überschritten Colgü und seine Leibgarde mit ihrem Gefangenen den Fluß auf der Furt. Sie folgten dem Weg in den Wald nördlich von Cuan Doir. Unterwegs erklärte Fidelma ihrem Bruder, was vorgefallen war.
»Und wie hängt das alles mit dem Mord an Dacan zusammen?« wollte Fidelmas Bruder wissen.
»Im einzelnen ist mir das noch nicht klar, doch du kannst mir glauben, daß da eine Verbindung besteht. Und das werde ich auch vor der Ratsversammlung des Großkönigs so darlegen.«
»Du weißt, daß die Versammlung in den nächsten Tagen zusammentritt? Wahrscheinlich sobald wir in Ros Ailithir eintreffen. Ich habe gehört, daß der Großkönig schon dort ist und daß die Schiffe Fiana-mails von Laigin vor der Küste gesichtet wurden.«
»Brocc hat mich schon darauf vorbereitet«, bestätigte Fidelma.
Colgü sah alles andere als glücklich aus.
»Wenn du darlegst, daß Salbach an dem Mord an Dacan beteiligt war oder dafür die Verantwortung trägt, dann können wir auch gleich sagen, daß Laigins Forderung an uns nach einem Sühnepreis gerechtfertigt ist. Salbach ist ein Fürst von Muman und untersteht Cashel.«
»Vorläufig sage ich noch gar nichts, Bruder«, erwiderte Fidelma entschieden. »Ich will die Wahrheit herausbekommen, wie immer sie auch aussieht.«
Sie erreichten die Holzfällerhütte. Intats zweiter Gefolgsmann lag noch bewußtlos unter den Trümmern des Holzfasses, gegen das ihn Fidelma geschleudert hatte. Er kam gerade langsam zu sich.
Cass’ Pferd stand nach wie vor angebunden vor der Hütte, wie Fidelma voller Angst feststellte.
Zwei Männer aus Colgüs Leibgarde saßen sofort ab und liefen mit gezogenen Schwertern in die Hütte.
Einer von ihnen kam schon einen Augenblick später mit düsterer Miene wieder heraus.
Fidelma wußte, was das Miene zu bedeuten hatte.
Sie glitt vom Pferd und eilte hinein.
Cass lag auf dem Rücken. Ein Pfeil steckte in seinem Herzen und einer in seinem Hals. Seine Angreifer hatten ihm nicht einmal die Ehre gewährt, sich wie ein Krieger zu verteidigen. Er hatte nur sein Schwert, doch sie hatten ihn von der Tür her niedergeschossen. Nun lag er da mit offenen Augen, die leer in die Höhe starrten.
Fidelma beugte sich nieder und schloß die blicklosen Augen in seinem schönen Gesicht.
»Er war ein guter Mensch«, sagte Colgü leise. Er stand nun hinter ihr und schaute hinunter.
Fidelmas Schultern zuckten leicht.
»Gute Menschen werden so oft von bösen umgebracht«, murmelte sie. »Ich wünschte, er hätte es noch erlebt, wie diese Sache geklärt wird.«
Sie stand auf und ballte die Fäuste in ihrem Kummer. Sie wandte ihrem Bruder ihr trauriges Gesicht zu, konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Ihre innere Stimme sagte ihr, daß sie einen dritten Fehler begangen hatte. Ihre Eitelkeit hatte Cass den Tod gebracht. Sie hatte drei Fehler gemacht, mehr durfte sie sich nicht leisten.
»Er starb, als er mich verteidigte, Colgü«, sagte sie leise.
Ihr Bruder neigte den Kopf.
»Ich glaube, so einen Tod hätte er sich gewünscht, kleine Schwester. Da sein Bemühen nicht vergeblich war, wird seine Seele Frieden finden. Sein Tod wird dich doch nicht daran hindern, die Untersuchung weiterzuführen?« fügte er besorgt hinzu.
»Nein«, erwiderte Fidelma fest. »Der Tod verhindert viele Dinge, doch nie den Sieg der Wahrheit. Seine Seele wird in Frieden ruhen, denn ich glaube, ich bin nun der Wahrheit nahe, die sich mir so lange entzogen hat.«
Fidelma hockte oben auf der Bastion an dem Rundgang, der sich an der gesamten Außenmauer der Abtei hinzog, und blickte nachdenklich auf die Bucht vor Ros Ailithir hinunter. Der stille Meeresarm hatte sich mit einem Wald von Masten und Rahen bedeckt, die von zahllosen Schiffen aufragten. Kriegsschiffe und Küstensegler hatten sich in dem geschützten Hafen versammelt wie eine Schule Fische auf ihrem Laichgrund, Würdenträger aus Meath, dem eigenen Reich des Großkönigs, und Laigin hierhergebracht. Auch die Chronisten, die den Verlauf der Verhandlung in ihre Annalen aufnehmen würden, waren mit dem Oberrichter angekommen. Dort drüben lag das prächtige Schiff, mit dem Erzbischof Ultan von Armagh, der Oberste Apostel des Glaubens in den fünf Königreichen, mit seinen Beratern angereist war.
Nur die Vertreter Mumans waren zu Pferde auf dem Landweg gekommen. Welches Glück für Fidelma, daß sie diesen Weg gewählt hatten. Sie hatte in ihrem Leben viel mit dem Tod zu tun gehabt. Durch ihren Beruf schien er ihr ständiger Begleiter geworden zu sein. Schließlich stand der Tod jedem nicht fern, der in enger Verbindung zur Natur lebte und sich auf die Wirklichkeit des Lebens einließ. Zu sterben war so natürlich wie geboren zu werden, und dennoch fürchteten viele den Tod. Doch selbst diese Furcht war natürlich, dachte Fidelma, denn fürchten sich Kinder nicht oft davor, ins Dunkle zu gehen, und der Tod war unbekanntes Dunkel. Doch alle diese Überlegungen konnten ihre tiefe Trauer über den Tod von Cass nicht lindern. Es gab noch so vieles, wofür er hätte leben sollen, so vieles, was er hätte lernen sollen. Sie fühlte sich zutiefst schuldig, weil ihr Eigensinn zu seinem Tod geführt hatte. Hätte sie auf seine Warnung gehört und sich nicht sofort auf die Suche nach Sal-bach gemacht, dann könnte er noch am Leben sein.
Sie bedauerte, in ihren Diskussionen so hart mit ihm umgegangen zu sein, und klagte sich der Sünde der Eitelkeit an, weil sie stolz auf ihre geistige Überlegenheit gewesen war. Doch dazwischen fragte eine leise Stimme in ihrem Inneren, ob sie um Cass trauerte oder ihre eigene Sterblichkeit beweinte. Diese hartnäckige leise Stimme verursachte ihr Unbehagen. Ihr fiel ein Zitat aus ihrem Griechischunterricht ein, ein Vers von Bacchylides: »Der bitterste Tod für einen Sterblichen ist der, den er selbst vor sich sieht.«
Sie bemühte sich, nicht ihrer Traurigkeit nachzugeben, sondern ihre Gedanken auf die unmittelbar bevorstehende Aufgabe zu richten, und suchte Trost in einem Leitspruch ihres Lehrers, des alten Brehon Morann von Tara: »Wer in Erinnerung bleibt, ist nicht tot, denn wirklich tot ist nur, wer gänzlich vergessen ist.«
Die Sonne sank langsam hinter den fernen Bergen im Westen, und morgen zur Terz würde die Glocke alle Beteiligten in die Abteikirche rufen, in der das Gericht des Großkönigs den Anspruch Laigins aus dem Tod Dacans anhören würde.
»Schwester Fidelma?« Sie hob den Kopf und sah Schwester Necht ein Stück abseits stehen und sie mit ernster Miene anschauen. »Ich möchte dich nicht stören.«
Fidelma wies auf das Stück Mauer neben ihr.
»Setz dich. Du störst mich nicht. Was kann ich für dich tun?«
»Zuerst möchte ich dir sagen, wie sehr mir der Tod deines Gefährten Cass leid tut«, sprach die Novizin mit vor Erregung dunkler Stimme und setzte sich umständlich hin. »Er war ein guter Mensch. Ich wäre gern ein Krieger wie er geworden.«
Fidelma konnte bei der Vorstellung ein leicht amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken.
»Doch wohl ein vergeblicher Ehrgeiz für eine Novizin?«
Das Mädchen errötete heftig.
»Ich meinte .«
»Macht nichts«, beruhigte sie Fidelma. »Verzeih mir meinen taktlosen Humor. Ich versuche wohl nur, mich mit seiner Hilfe gegen meine eigene Traurigkeit zu wehren. Du wolltest noch etwas anderes sagen?«
Das Mädchen zögerte, nickte dann aber.
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