»Das weiß ich«, erklärte Eadulf ungeduldig. »Und die Eoghanacht des Südens leiten ihre Abkunft von Eber her. Aber glaubst du wirklich, daß Cashel von den Ui Neill aus dem Norden bedroht wird?«
»Was im Knochen wächst, ist dem Fleisch schwer auszutreiben«, bemerkte Fidelma, als sie vor dem Tor der Abtei standen.
»Das verstehe ich nicht«, wandte Eadulf ein.
»Seit tausend Jahren hassen die Ui Neill die Eogha-nacht und neiden ihnen ihr Königreich.«
Der diensttuende Mönch am Tor war Bruder Daig, der muntere junge Mann, den sie kurz zuvor kennengelernt hatten. Er schien erfreut, sie zu sehen.
»Gott sei Dank, daß ihr unversehrt zurück seid. Seit mehr als zwei Stunden höre ich das Geheul der Wölfe in den Bergen. An so einem Abend sollte man nicht ohne Herberge sein.«
Er zog das Tor hinter ihnen zu.
»Wir haben sie auch gehört«, bemerkte Eadulf.
»Ihr müßt wissen, daß es viele Wölfe in den Wäldern und auf den Feldern in dieser Gegend gibt«, fuhr Bruder Daig mitteilsam fort. »Sie können sehr gefährlich werden.«
Eadulf wollte gerade erwidern, daß ihm das sehr wohl bekannt sei, doch da fing er Fidelmas warnenden Blick auf.
»Du bist sehr aufmerksam, Bruder«, sagte sie. »Das nächste Mal passen wir besser auf, wenn wir uns im Dunkeln hinauswagen.«
»Es gibt noch ein kaltes Mahl im Speisesaal, Schwester, falls ihr noch nichts gegessen habt«, fuhr der junge Mönch fort. »Es ist schon so spät, daß ich fürchte, das warme Essen habt ihr versäumt.«
»Das spielt keine Rolle. Bruder Eadulf und ich gehen in den Speisesaal. Vielen Dank für deine Fürsorge. Wir wissen sie sehr zu schätzen.«
Auf dem Wege zum Speisesaal flüsterte Eadulf: »Wollen wir nach der Mahlzeit noch mit Cred reden?«
»Wie Bruder Daig schon sagte, es ist sehr spät. Cred kann warten. Sobald ich gegessen habe, gehe ich zu Bett und ruhe mich aus. Es war ein anstrengender Tag. Morgen gleich nach dem Frühstück machen wir uns auf zu Cred.«
Der Klang von Kriegshörnern weckte Fidelma nur wenige Augenblicke, bevor Schwester Scothnat, die domina des Gästehauses, in ihr Zimmer stürzte und mit lauter und angsterfüllter Stimme rief: »Steh auf und verteidige dich, Lady, wir werden angegriffen.«
Einen Moment von Panik erfaßt, sprang Fidelma auf und hörte nun deutlich das Schmettern der Hörner und die entfernten Rufe und Schreie der Menschen. Sie zündete eine Kerze an und sah in deren Licht Schwester Scothnat händeringend und heftig weinend in der Tür stehen.
Fidelma ging zu ihr und packte sie mit beiden Händen. »Nimm dich zusammen, Schwester!« rief sie. »Sag mir, was passiert ist. Wer greift uns an?«
Scothnat hielt verwirrt inne, von Fidelmas scharfem Ton zur Besinnung gebracht. Dann schluchzte sie wieder leise. »Die Abtei, die Abtei wird angegriffen!«
»Von wem?«
Sie merkte, daß Schwester Scothnat zu sehr von Angst überwältigt war, um auf ihre Frage antworten zu können.
Fidelma zog sich rasch an. Draußen war es noch dunkel, und sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, meinte aber, die Morgendämmerung könne nicht mehr fern sein.
Sie eilte aus dem Zimmer und ließ die schluchzende Scothnat allein. Fast wäre sie mit einer dunklen, kräftigen Gestalt zusammengeprallt, die in die entgegengesetzte Richtung stürmte. Selbst in der Dunkelheit erkannte sie Eadulf.
»Ich suche dich gerade.« Er klang besorgt. »Krieger greifen die Abtei an.«
»Weißt du mehr?« fragte sie.
»Nein. Ich wurde eben erst von Bruder Madagan geweckt. Er will nachsehen, ob die Tore alle geschlossen sind, aber ich glaube, außer den Mauern und den Toren hat die Abtei nicht viel Schutz zu bieten.«
Plötzlich begann die große Glocke der Abtei zu läuten, immer lauter, da die Hände am Glockenseil nach jedem Anschlagen noch heftiger zogen. Das Läuten war eher ein verzweifelter Hilferuf denn eine feierliche Mahnung.
»Schauen wir mal, was wir herausfinden«, rief Fi-delma durch den Lärm und lief den Gang entlang in Richtung Haupttor.
Eadulf folgte ihr und protestierte: »Die anderen Frauen sind an einen sicheren Platz in den Gewölben der Abtei geführt worden.«
Fidelma ersparte sich eine Antwort. Sie war flink, und Eadulf hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sie eilten durch die dunklen Kreuzgänge, in denen mehrere Brüder aufgeregt und ziellos hin und her rannten.
Fidelma hörte die immer lauter werdenden Kriegshörner und die Rufe und Schreie der Kämpfenden jenseits der mächtigen Mauern der Abtei. Sie erreichten den Haupthof und sahen, wie eine Gruppe junger, kräftiger Mönche versuchte, die Balken am Haupttor vorzuschieben, angeleitet vom Verwalter der Abtei, Bruder Madagan.
Fidelma rief ihn an, als sie nahe genug waren.
»Was geht hier vor? Wer greift uns an?«
Bruder Madagan hielt einen Moment inne mit seinen Anweisungen.
»Fremde Krieger, mehr wissen wir nicht. Bis jetzt haben sie die Abtei nicht direkt angegriffen. Es geht ihnen anscheinend mehr darum, die Stadt zu plündern.«
»Wo ist der Abt?«
Bruder Madagan zeigte auf den kleinen viereckigen Wachtturm, der sich neben dem Tor drei Stockwerke hoch erhob »Entschuldige, Schwester«, damit wandte er sich ab, »ich muß mich um unsere Sicherheit kümmern.«
Fidelma lief bereits auf den Turm zu, von Eadulf gefolgt.
Im Innern des Turms führte eine Treppe zu jedem der Stockwerke, gerade breit genug für eine Person. Ohne zu zögern, hastete Fidelma nach oben, und Ea-dulf eilte ihr nach.
Die unteren Stockwerke waren leer, ganz oben trafen sie auf Abt Segdae, der hinter dem stand, was man bei einer Wehranlage die Brustwehr genannt hätte. Eine brusthohe Mauer umgab das Dach, und von dort konnte man das Gelände um die Abtei herum überblicken.
Abt Segdae war nicht allein. Neben ihm stand die stämmige Gestalt des Kaufmanns Samradan. Segdae hielt sich im Schutz der Mauer und starrte über den Platz auf die Stadt. Seine Schultern waren herabgesunken, die geballten Fäuste hielt er in die Seiten gestemmt, sein Kopf war vorgeschoben, und so beobachtete er grimmig das Geschehen. Samradan schien gleichfalls von dem Schauspiel gebannt. Sie grüßten Fidelma und Eadulf nicht, als diese auf das Dach stiegen.
Fidelma und Eadulf hatten bereits ein unheimliches rotes Glühen bemerkt, ein seltsames gelbrot flackerndes Licht, das sich über die Vorderseite der Abtei ergoß. Sein merkwürdig drohender Schein wurde von den niedrig hängenden Wolken zurückgeworfen. Offensichtlich standen schon viele Häuser der Stadt in Flammen. Die Schreie der Menschen und das angstvolle Wiehern der Pferde drangen herüber. Außerhalb der Mauern der Abtei herrschte ein wildes Durcheinander. Berittene jagten hin und her über den Platz und durch die Straßen, die einen mit Brandfackeln in den Händen, die anderen Schwerter schwingend. Es war klar, daß die ungeschützten Gebäude des Ortes den ersten Ansturm auszuhalten hatten. Nachdem sich ihre Augen an das eigenartige Zwielicht der von brennenden Gebäuden und irrlichternden Fackeln erhell-ten Nacht gewöhnt hatten, konnte Fidelma noch etwas ausmachen. Hier und da lagen dunkle flache Hügel auf dem Boden, offenbar Leichen. Dann sah sie auch, wie Menschen einzeln oder in kleinen Gruppen um ihr Leben rannten, von berittenen Kriegern verfolgt. Ab und zu verriet ein Schrei, daß eine Klinge ihr Opfer gefunden hatte.
Fidelma wandte sich erbittert an Abt Segdae.
»Gibt es kein Mittel, Imleach zu retten?« fragte sie.
Der Abt schien zu benommen, um zu antworten. Er wirkte plötzlich wie ein gebrechlicher alter Mann. Fidelma schüttelte ihn ungestüm am Arm.
»Segdae, dort werden unschuldige Menschen niedergemacht. Gibt es keine Krieger in der Nähe, die wir herbeirufen können?«
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