Als die Colonels Coote Manningham und Stewart ihre Pläne für eine neue Einheit vorgestellt hatten, eine Einheit, die Feuer mit Feuer bekämpfte und den Krieg auf die Franzosen ausdehnen würde, waren die Männer für dieses neue Corps aus anderen Einheiten zusammengezogen worden. Und plötzlich spielte die Vergangenheit keine Rolle mehr, es war egal, ob sie Freiwillige oder Dienstpflichtige waren. Die Loyalität der Männer gehörte dem neuen Regiment, und der Kitt, der sie zusammenhielt, war der Wille, für ihr Land und gegen die Franzosen zu kämpfen.
Auf der Rapacious war es ganz ähnlich. Es spielte keine Rolle, ob man Seemann oder Soldat war, ob man Lehrer oder Kaufmann war oder ein Kaperschiff befehligt hatte. Wichtig war lediglich, dass man einen gemeinsamen Feind hatte. Und im Falle der Männer, die hier in diesem Schiffsrumpf eingesperrt waren - und dazu gehörte Hawkwood -, waren es die Offiziere und die Besatzung des Schiffes Rapacious Seiner Britischen Majestät, die den gemeinsamen Feind verkörperten.
Von Ludd wusste er, dass Rapacious nicht ihr einziger Name war. Während ihrer Jahre als Schlachtschiff hatte die Besatzung ihr als Zeichen ihres Respekts einen Spitznamen gegeben: Rapscallion , in Anerkennung ihrer Rolle gegenüber den Franzosen, denen sie nichts als Ärger gebracht hatte.
Es war zweifelhaft, überlegte Hawkwood, während er sich umsah, ob einer der Seeleute, die damals ihre Segel gesetzt, in ihrer Takelage herumgeklettert waren oder ihre Kanonen ausgefahren hatten, sie jetzt wieder erkennen würde. Was sie als großes, starkes Schiff einst an Schönheit und Stolz besessen haben mochte, war schon lange dahin. Selbst jetzt, wo die Morgensonne auf ihr Quarterdeck schien, wurde sie nicht schöner. Ihr einst so edles Profil war von einem Sammelsurium windschiefer Holzhütten verunstaltet, und sie war hässlich wie ein Londoner Slum.
Wieder riefen sich die Arbeiter auf Deck etwas zu. Die vollen Wasserfässer waren alle an Bord, und das letzte Versorgungsboot fuhr mit den leeren Fässern davon. Einige der vollen Fässer blieben an Deck. Der Inhalt wurde gebraucht, um mittags Suppe zu kochen und um die Trinkwassertanks wieder aufzufüllen. Die Winsch wurde für die nächsten Lieferungen in Position gebracht.
Lasseur wandte sich von der Reling ab. »Kommen Sie mit, mein Freund. Ich brauche etwas Bewegung.«
Durch die Anzahl der Gefangenen, die überall auf dem Deck lagen, war es mehr ein Hindernislauf als ein Spaziergang.
»Was meinen Sie, wie viele Soldaten hier an Bord sind?«, fragte Lasseur. Er sprach leise, während sie sich zwischen den Menschen hindurch ihren Weg bahnten.
»Schwer zu sagen«, antwortete Hawkwood. »Ich würde schätzen, mindestens vierzig.« Er sah nach achtern, wo zwei Mitglieder der Miliz Wache schoben. Ihre Musketen über der Schulter, liefen sie auf dem Quarterdeck auf und ab. Andere Milizionäre waren gleichmäßig über das Schiff verteilt, einschließlich einem auf dem Vordeck, wo sie gerade hergekommen waren. Hawkwood hatte drei auf der Brücke gesehen und einen auf dem Floß, bei jedem Niedergang stand ebenfalls einer. Er vermutete, dass noch weitere bereitstanden, um beim ersten Anzeichen von Unruhe einzuschreiten.
Die beiden Männer verließen die Back und begaben sich nach unten.
»Ich habe gestern Abend gezählt«, sagte Lasseur, als sie die Treppe hinuntergingen. »Auf den Schutzgittern draußen waren sechs, einer war auf dem Floß, und dann hörte ich noch andere bei den Niedergängen.«
»Sie haben nicht viel Zeit verschwendet«, sagte Hawkwood.
Lasseur zuckte die Schultern. »Es war so heiß, ich konnte nicht schlafen. Was sollte ich denn sonst machen? Außerdem habe ich bemerkt, dass Sie sich auch umgesehen haben.«
»Da ist aber auch noch die Mannschaft«, sagte Hawkwood.
»Die hatte ich nicht vergessen. Wie viele, würden Sie sagen?«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Auf einem Schiff von dieser Größe? Das wissen Sie bestimmt besser als ich. Dreißig?«
Lasseur dachte nach und spitzte die Lippen. »So viele nicht. Vielleicht zwanzig.«
»Die werden sich bestimmt auch bewaffnen können«, sagte Hawkwood.
Lasseur nickte. »Zweifellos. Hier gibt’s bestimmt eine Waffenkammer: Pistolen und Musketen, vielleicht auch Entermesser.« Der Privateer verfiel in Schweigen.
Auf dem Geschützdeck angekommen war Hawkwood überrascht von der Anzahl Gefangener, die hier mit ihren Mithäftlingen Geschäfte machen wollten. Bei ihrer Suche nach Käufern und Verkäufern konnten sie so hartnäckig sein wie die Händler, denen er unter den Laubengängen von Covent Garden oder dem Haymarket begegnet war. Nicht wenige Männer waren bereit, ihre persönlichen Besitztümer zu verkaufen, und ihr erbärmlicher Zustand ließ ahnen, warum sie das taten. Hawkwood, der diesen Handel beobachtete, wusste nicht, was deprimierender war: die Tatsache, dass diese Männer so bettelarm waren oder die mitleiderregende Dankbarkeit auf ihren Gesichtern, wenn der Handel abgeschlossen war. Einige der Gefangenen, die am Vortage angekommen waren, tauschten Kleidungsstücke gegen Münzen. Sie taten es verstohlen, als schämten sie sich dafür. Hawkwood vermutete, dass sie mit dem Geld Nahrungsmittel kaufen würden, eine Handelsware, die hier zur Währung geworden war.
Lasseur erriet seine Gedanken. »Ich sprach vorhin mit Ihrem Freund Sébastien. Er erzählte mir, als er in Portsmouth war, habe ein Mann auf der Vengeance eine Art Suppenküche aufgemacht und die Suppe napfweise verkauft. Er wurde reich damit. Sobald etwas knapp ist, kann man damit Geld verdienen.«
»Da würde Leutnant Murat Ihnen wahrscheinlich zustimmen«, erwiderte Hawkwood.
»Ah, ja, unser tüchtiger Dolmetscher. Tja, das ist ein Mann, den man sich warmhalten sollte.«
»Trauen Sie ihm?«
»Ungefähr so weit, wie ich spucken kann.«
»Immerhin so weit?«, sagte Hawkwood.
Lasseur lachte.
Hawkwoods Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch eine der kleinen Gruppen, die Teile der umlaufenden Bank an den Fensteröffnungen auf Steuerbord belegt hatten. Es war der Lehrer Fouchet mit seiner Vormittagsklasse. Seine Schüler - insgesamt ein halbes Dutzend - saßen ihm zu Füßen auf dem Boden. Der Junge Lucien war auch darunter. Es sah aus, als sei er der Jüngste. Der Älteste war ungefähr vierzehn. Fouchet begegnete Hawkwoods Blick und grüßte mit einem Lächeln zu ihm hinüber. Seine Schüler sahen nicht auf.
Auf der Rapacious befanden sich etwa vierzig Jungen, hatte Fouchet ihm gesagt, ihr Alter lag zwischen zehn und sechzehn. Das war nichts Außergewöhnliches. Auf Fouchets letztem Schiff, der Suffolk , waren mehr als fünfzig Jugendliche gefangen gewesen, während ein weiteres schwimmendes Gefängnis vor Portsmouth, die Prothée , mehr als hundert hatte, manche nicht älter als neun Jahre. Hawkwood ging es durch den Kopf, ob es klug von der Transportbehörde war, diese Kinder zusammen mit Männern einzusperren. Aber schließlich beschäftigte die Königliche Navy ebenfalls Jungen, die nicht älter waren als diese Schüler von Fouchet und als Midshipmen oder Laufburschen für die Kanoniere fungierten, also sah man vermutlich auch nichts Außergewöhnliches darin, wenn man ein unschuldiges Kind wie Lucien Ballard dazu verurteilte, die Schrecken eines Hulks zu ertragen. Hawkwood überschlug flüchtig, dass Nelson ungefähr im selben Alter wie Lucien gewesen sein musste, als er zur See gegangen war. Er dachte auch an einige der Straßenkinder, die als Informanten für ihn arbeiteten. Auch bei ihnen war das Alter nie ein Thema gewesen. Die einzige Bedingung, die er bei ihrer Rekrutierung stellte, war, dass sie rennen konnten, sich in den Straßen auskannten und Augen und Ohren offen hielten.
»Mein Sohn ist zwölf«, sagte Lasseur leise. Der Privateer sah ebenfalls zu der Gruppe bei der Luke hinüber.
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