Zwischen Bristol und Chiswick, während wir mit eingeschalteten Scheinwerfern die Schnellstraße M4 hinaufrasten, erzählte mir Danielle von ihrem Job, der, wie sie sagte, weitgehend eine Frage der Logistik war: Sie schickte die Kamerateams und Interviewer jeweils dahin, wo es Neuigkeiten gab.
»Die halbe Zeit studiere ich Zugfahrpläne und Straßenkarten, um die schnellste Route zu finden, und ausgehend von der Zeit, wann wir losgefahren sind, und von der Straße, auf der wir uns gerade befinden, nahm ich an, wir würden uns verspäten.« Sie warf einen Blick auf den Tacho. »An 90 hätte ich nicht im Traum gedacht.«
Ich ging sachte auf 88 runter. Ein Wagen überholte uns mühelos. Danielle schüttelte den Kopf. »Daran muß ich mich erst noch gewöhnen«, sagte sie. »Wieviel Strafzettel kriegen Sie denn so wegen Geschwindigkeitsübertretung?«
»Bisher drei in zehn Jahren.«
»Und Sie fahren jeden Tag so?«
»Mehr oder weniger.«
Sie seufzte. »In den guten alten USA halten wir 70 für verworfen. Waren Sie schon drüben?«
»In Amerika?« Ich nickte. »Zweimal. Einmal bin ich dort im Maryland Hunt Cup geritten.«
»Das ist ein Amateurrennen«, sagte sie ohne Betonung, offenbar darauf bedacht, keine Zweifel an meinen Worten zu äußern.
»Ja. Ich habe als Amateur angefangen. Es schien mir am besten, erst mal herauszufinden, ob ich was kann, bevor ich mich für die Zukunft festlege.«
»Und wenn es nicht geklappt hätte?«
»Ich hatte einen Collegeplatz.«
»Und den haben Sie nicht genommen?« sagte sie ungläubig.
»Nein. Ich fing an zu siegen, und das war das, was ich am meisten wollte. Für den Studienplatz hatte ich mich nur beworben, falls ich als Jockey nicht landen konnte. Als eine Art Versicherung.«
»Was für ein Fach?«
»Veterinärmedizin.«
Sie war geschockt. »Heißt das, Sie haben darauf verzichtet, Tierarzt zu werden, um Jockey zu sein?«
»Stimmt«, sagte ich. »Warum nicht?«
»Aber ... aber ...«
»Jaja«, sagte ich. »Alle Athleten ... Sportler ... was auch immer . sehen sich, wenn sie erst mal fünfunddreißig sind, mit dem vorzeitigen Alter konfrontiert. Fünf Jahre könnten mir noch bleiben.«
»Und dann?«
»Trainieren wahrscheinlich. Pferde trainieren, die andere reiten.« Ich zuckte die Achseln. »Das ist noch lange hin.«
»Heute nachmittag kam es nahe dran«, meinte Danielle.
»Im Grunde nicht.«
»Tante Casilia sagt, das Skeletonrennen auf dem Cresta-Run ist möglicherweise gefährlicher als das Leben eines Hindernisjockeys. Möglicherweise. Sie war sich nicht sicher.«
»Der Cresta-Run ist eine Goldmedaille oder ein Schreck fürs Leben, aber keine Laufbahn.«
»Sind Sie mal runtergefahren?«
»Selbstverständlich nicht. Das ist gefährlich.«
Sie lachte. »Sind alle Jockeys wie Sie?«
»Nein. Alle verschieden. Wie Prinzessinnen auch.«
Sie holte tief Atem, als schöpfte sie Meeresluft. Ich zog meine Aufmerksamkeit von der Straße ab, um einen Augenblick ihr Gesicht zu mustern, denn was immer ihre Tante von meinen Fähigkeiten im Gedankenlesen halten mochte, bei einer jungen Frau schien mir das nie zu gelingen, außer bei Holly ... Ich wußte auch, daß ich dazu in der Lage sein wollte, daß jede Liebe sonst unvollständig wäre. Ich konnte mir denken, daß ich, hätte ich Holly nicht gehabt, vielleicht eines von den beiden Mädchen geheiratet hätte, die mir am sympathischsten gewesen waren. Wie die Dinge lagen, hatte ich mit keiner von beiden auch nur das Stadium des Zusammenlebens erreicht.
Ich hatte Holly weder heiraten noch mit ihr schlafen wollen, aber ich hatte sie tiefer geliebt. Es schien, daß Sex und Telepathie bei mir nicht zusammengingen, aber bis das geschah oder solange es nicht geschah, würde ich wahrscheinlich ledig bleiben.
»Woran denken Sie?« fragte Danielle.
Ich lächelte schief. »Daß ich nicht weiß, was Sie denken.«
Nach einer Pause sagte sie: »Ich dachte, wenn Tante Casilia sagt, Sie seien außergewöhnlich, dann kann ich verstehen, was sie damit meint.«
»Sie sagt was?«
»Außergewöhnlich. Ich fragte sie, in welcher Hinsicht, aber sie lächelte nur reizend und wechselte das Thema.«
»Ehm . wann war das?«
»Auf unserer Fahrt nach Devon heute morgen. Sie wollte schon seit ich gekommen bin, daß ich sie mal zum Pferderennen begleite, also bin ich heute mit, weil sie die Rückfahrt für mich arrangiert hatte. Sie selber bleibt wegen so einer riesigen Party über Nacht bei den Inscombes. Sie hoffte, glaub ich, daß mir die Rennen ebensosehr gefallen wie ihr. Denken Sie manchmal, sie ist einsam, wenn sie so viele Meilen nur mit ihrem Chauffeur zu den Meetings fährt?«
»Ich glaube nicht, daß sie sich einsam fühlte, bevor Sie kamen.«
»Oh!«
Sie verfiel eine Zeitlang in Schweigen, und schließlich sagte ich nüchtern: »Wir werden in drei Minuten in Chiswick sein.«
»Ja?« Sie klang beinahe enttäuscht. »Ich meine, gut. Aber die Fahrt hat mir Spaß gemacht.«
»Mir auch.«
Mein inneres Auge war plötzlich sehr stark von der Gegenwart Hollys erfüllt, und ich hatte einen lebhaften Eindruck von ihrem in tiefer Verzweiflung verzerrten Gesicht.
Ich sagte unvermittelt zu Danielle: »Gibt es einen Münzfernsprecher in der Nähe Ihres Büros?«
»Ja, ich denke.« Sie schien etwas verwirrt über den dringenden Ton, den auch ich in meiner Stimme hörte. »Klar ... nehmen Sie den Apparat auf meinem Schreibtisch. Ist Ihnen was Wichtiges eingefallen?«
»Nein ... ehm, ich ...« Ich kapitulierte vor der Unmöglichkeit einer vernünftigen Erklärung. »Ich habe das Gefühl«, sagte ich lahm, »daß ich meine Schwester anrufen sollte.«
»Das Gefühl?« fragte sie neugierig. »Sie sahen aus, als hätten Sie mindestens einen Termin beim Präsidenten verschwitzt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Hier ist Chiswick. Wie fahren wir jetzt?«
Sie wies mir den Weg, und wir hielten auf einem Parkplatz »nur für Betriebsangehörige« vor einem lagerhausähnlichen Gebäude in einer Nebenstraße. Zwanzig nach sechs auf der Uhr; noch zehn Minuten gut.
»Kommen Sie mit rein«, sagte Danielle. »Daß ich Sie telefonieren lasse, ist das wenigste, was ich tun kann.«
Ich kletterte steifbeinig aus dem Wagen, und sie meinte zerknirscht: »Ich hätte Sie wohl nicht die ganze Strecke fahren lassen sollen.«
»Es ist kein großer Umweg.«
»Sie lügen wie gedruckt. Wir haben die Ausfahrt nach Lambourn fünfzig Meilen hinter uns gelassen.«
»Ein Klacks.«
Sie beobachtete, wie ich die Wagentür abschloß. »Ernsthaft, sind Sie okay?«
»Es ist nichts, was ein heißes Bad nicht in Ordnung bringt.«
Sie nickte und drehte sich um, um in das Gebäude voranzugehen. Das Foyer hinter der gläsernen Eingangstür war mit Sesseln, Topfpflanzen und einem uniformierten Wachmann am Empfangsschalter versehen. Sie und er trugen mich in ein Buch ein, gaben mir einen Paß zum Anstecken und komplimentierten mich durch eine massive Tür, die sich auf einen elektronischen Summton öffnete.
»Entschuldigen Sie das Festungssyndrom«, sagte Danielle.
»Die Gesellschaft fürchtet sich zur Zeit vor Bomben.«
Wir gingen einen kurzen Gang hinunter in ein geräumiges offenes Büro mit sechs oder sieben Schreibtischen und Leuten dahinter, von denen die meisten aussahen, als schickten sie sich an, nach Hause zu gehen. Da war außerdem ein Meer aus grünem Teppichboden, ein rundes Dutzend Computer und an einer Längswand eine Reihe von Bildschirmen über Kopfhöhe, die allesamt verschiedene Programme zeigten, aber keinen Ton von sich gaben.
Danielle und die anderen vom Stab tauschten ein paar Hallos und Grüß-Dich aus, und niemand stellte Fragen wegen meiner Anwesenheit. Sie führte mich durch den Raum zu ihrer eigenen Domäne, einem Bereich mit zwei im rechten Winkel zueinander stehenden Schreibtischen und einem komfortablen Drehsessel, der für beide diente. Auf den Tischen mehrere Karteikästen, ein Computer, eine Schreibmaschine, ein Stapel Zeitungen und ein Telefon. An der Wand hinter dem Sessel befand sich eine große Tafel, auf die man Stichworte mit Filzstift schreiben und leicht wieder löschen konnte. Es war eine Tabelle mit den Überschriften SLUG, TEAM, ORT, ZEIT, FORMAT.
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