»Wem hat es noch gehört?«
»Dem Grafen von Saint-Germain, der es später Cazotte verkauft hat.«
»Jacques Cazotte?«
»Genau. Er hat den Verliebten Teufel geschrieben und ist 1792 guillotiniert worden. Kennen Sie das Buch?«
Corso nickte vorsichtig. Die Bezüge waren so offensichtlich, daß sie fast schon wieder unmöglich erschienen.
»Ja, ich habe es einmal gelesen.«
Irgendwo in der Wohnung klingelte ein Telefon, und man hörte die Schritte der Sekretärin im Gang. Danach trat wieder Stille ein.
»Was die Neun Pforten betrifft«, fuhr die Baronin fort, »so haben sich seine Spuren in den Tagen der revolutionären Tumulte hier in Paris verloren. Zwar wird es noch ein paarmal erwähnt, aber die Angaben sind immer sehr ungenau: Gérard de Nerval zitiert es beiläufig in einem seiner Artikel und behauptet, es im Haus eines Freundes gesehen zu haben ...«
Corso blinzelte kaum merklich hinter seinen Brillengläsern.
»Gehörte nicht auch Dumas zu seinen Freunden?« fragte er alarmiert.
»Doch, aber Nerval sagt nicht, bei welchem Freund er es gesehen hat. Fest steht nur, daß bis zum Verkauf des Pétain-Anhängers keiner mehr das Buch zu Gesicht bekommen hat. Und seither steht es hier, in meiner Bibliothek.«
Corso hörte ihr nicht mehr zu. Der Legende zufolge hatte Gérard de Nerval sich mit dem Schnürband des Mieders von Madame de Montespan erhängt. Oder war es das Band der Maintenon gewesen? Aber ob es nun der einen oder der anderen gehört hatte, jedenfalls stellte er unwillkürlich die Verbindung zum Gürtel von Enrique Taillefers Morgenmantel her.
Das Erscheinen der Sekretärin unterbrach ihn in seinen Gedanken. Corso werde am Telefon verlangt. Er entschuldigte sich und ging an den Lesetischen vorbei in den Gang hinaus, der ebenfalls mit Büchern und Pflanzen vollgestopft war. Auf einem kleinen Ecktisch stand ein altmodischer Telefonapparat aus Metall, dessen Hörer ausgehängt war.
»Ja, bitte?«
»Corso? Hier ist Irene Adler.«
»Das höre ich«, sagte er mit einem Blick in den leeren Korridor. Die Sekretärin war verschwunden. »Ich habe mich schon gewundert, daß du nicht mehr auf deinem Posten bist. Von wo rufst du an?«
»Von der Bar an der Ecke. Das Haus wird von einem Mann überwacht. Deshalb bin ich hierher gekommen.«
Corso atmete einmal tief durch. Dann suchte er mit den Zähnen ein Nagelhäutchen am Daumen und biß es ab. Früher oder später mußte es ja so weit kommen, sagte er sich mit zerknirschter Resignation: Dieser Mensch gehörte mittlerweile richtiggehend zum Hintergrundbild oder zur Bühnenausstattung. Dann stellte er eine Frage, von der er wußte, daß sie eigentlich überflüssig war:
»Wie sieht er aus?«
»Dunkelhaarig, mit Schnurrbart und einer großen Narbe im Gesicht.« Die Stimme des Mädchens klang gelassen. Sie schien weder aufgeregt zu sein noch irgendeine Gefahr zu wittern. »Er sitzt in einem grauen BMW, der auf der anderen Straßenseite parkt.«
»Hat er dich gesehen?«
»Das weiß ich nicht. Er ist seit einer Stunde dort und in der Zeit zweimal aus dem Auto gestiegen: einmal, um die Namensschildchen neben dem Hausportal durchzugehen, und das andere Mal, um Zeitungen zu kaufen.«
Corso spuckte das Nagelhäutchen aus und lutschte am schmerzenden Daumen.
»Hör mal. Ich habe keine Ahnung, was dieser Typ will, und ich weiß auch nicht, ob ihr beiden womöglich unter einer Decke steckt. Aber es gefällt mir nicht, daß er in deiner Nähe ist. Das gefällt mir überhaupt nicht. Du gehst also auf der Stelle ins Hotel zurück.«
»Red keinen Quatsch, Corso. Ich gehe hin, wo ich hingehen muß.«
Bevor sie einhängte, fügte sie noch »Grüße an Treville« hinzu, und Corso stöhnte halb verdrossen, halb sarkastisch auf, denn er hatte genau dasselbe gedacht, und diese Übereinstimmung paßte ihm überhaupt nicht. Er starrte auf den Hörer, ohne ihn auf die Gabel zurückzulegen. Klar: Sie las ja Die drei Musketiere - das hatte er vorher sogar vom Fenster aus sehen können. Wahrscheinlich war sie beim dritten Kapitel angelangt: D’Artagnan, der soeben in Paris eingetroffen ist und sich in der Audienz mit Herrn de Treville befindet, dem Hauptmann der Musketiere des Königs, erblickt vom Fenster aus Roche-fort, stürzt Hals über Kopf die Treppe hinunter, um ihn zu fassen, und gerät dabei mit Athos’ Schulter, Porthos’ Wehrgehänge und Aramis’ Taschentuch aneinander. Grüße an Treville. Ob ihr diese geistreiche Bemerkung spontan in den Sinn gekommen war? Als Witz nicht schlecht, aber Corso war nicht zum Lachen zumute.
Nachdem er eingehängt hatte, blieb er eine Weile nachdenklich im Korridor stehen. Vielleicht erwartete man sich ja gerade das von ihm: daß er mit gezücktem Säbel die Treppe hinunterstürmte und dem Lockvogel Rochefort hinterherlief. Selbst der Anruf des Mädchens konnte Bestandteil des Plans sein, oder -wenn er um ein paar Ecken herum dachte - auch das Gegenteil, also eine Warnung vor diesem Plan, vorausgesetzt natürlich, daß es einen Plan gab. Und vorausgesetzt, daß das Mädchen -Corso hatte zu viel Erfahrung, um für irgend jemanden die Hand ins Feuer zu legen - in lauterer Absicht handelte.
Schlechte Zeiten, sagte er sich wieder. Verrückte Zeiten. Bücher, Kino, Fernsehen, unterschiedliche Leseniveaus - was nützte das alles, wenn man noch immer nicht in der Lage war zu sagen, ob man es mit dem Original oder mit einer Kopie zu tun hatte, ob man im Spiegelkabinett vor dem echten Abbild stand oder vor seiner seitenverkehrten Version oder vor einer Summe aus beiden. Welche Absichten verfolgte der Verfasser? Heutzutage war es ebensogut möglich, ein Ignorant wie ein Besserwisser zu sein. Ein Grund mehr, den Ururgroßvater Corso mit seinem Grenadierschnurrbart zu beneiden, eingehüllt in den Pulvergeruch flandrischer Schlachtfelder. Damals war eine Fahne noch eine Fahne gewesen, der Kaiser eben der Kaiser, und eine Rose war eine Rose war eine Rose. Aber wie auch immer, eins stand für Corso auch jetzt, hier, in Paris, fest: Selbst als anspruchsvoller Leser konnte er von niemandem dazu gezwungen werden, dieses Spiel über eine gewisse Grenze hinaus mitzumachen. Was zu weit ging, ging zu weit.
Er hatte weder das Alter noch die Naivität, noch die Lust, sich auf einem Terrain zu schlagen, das der Gegner ausgewählt hatte - drei Duelle, innerhalb von zehn Minuten vereinbart, am Karmeliterkloster oder wo auch immer. Im geeigneten Augenblick würde er schon von selbst an Rochefort herantreten und ihm seine Aufwartung machen, am besten von hinten und mit einem Brecheisen in der Hand. Das schuldete er ihm noch seit dem Vorfall in Toledo, ganz zu schweigen von den Zinsen, die der Kerl sich in Sintra angehäuft hatte. Corso war einer, der seine Schulden kaltblütig beglich. Und ohne jede Eile.
Es scheint mir, daß dieses Rätsel gerade aus dem Grund als unlösbar gilt, weshalb man es eigentlich für leicht lösbar halten sollte.
E. A. Poe, Die Morde in der Rue Morgue
»Der Schlüssel ist denkbar einfach«, sagte Frida Ungern. »Es werden ähnliche Abkürzungen benützt wie in den alten lateinischen Handschriften. Vielleicht, weil Aristide Torchia den größten Teil des Textes wortwörtlich von einem anderen Manuskript abgeschrieben hat, möglicherweise von dem berühmten Delomelanicon. Wer sich auch nur annähernd in der Sprache der Hermetiker auskennt, kann die Bildunterschrift des ersten Holzschnitts ohne weiteres entschlüsseln: NEM. PERV.T QVI N.N LEG. CER.RIT heißt natürlich NEMO PERVENIT QUI NON LEGITIME CERTAVERIT.«
»Wer nicht kämpft, wie die Regeln es vorschreiben, wird nie an sein Ziel gelangen. «
Sie waren bei der dritten Tasse Kaffee angelangt, und nun bestand kein Zweifel mehr, daß die Baronin ihn - wenigstens im übertragenen Sinne - adoptiert hatte. Er sah, wie sie zufrieden nickte.
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