Corso spähte um sich, als wollte er sich vergewissern, daß sie auch wirklich allein im Zimmer waren, und beugte sich dann vertraulich zu ihr hinüber.
»Noch vor dreihundert Jahren hätte man sie für ein solches Geständnis verbrannt.«
Die Baronin unterdrückte ein Kichern und gab ein zufriedenes Gurren von sich, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte und seinem Ohr näherte.
»Vor dreihundert Jahren hätte ich niemandem dieses Geständnis gemacht«, flüsterte sie geheimnisvoll. »Aber ich kenne genug Leute, die mich mit dem größten Vergnügen auf den Scheiterhaufen bringen würden.« Ihre Grübchen begleiteten ein erneutes Lächeln. Diese Frau lächelt immer, entschied Corso bei sich. Aber ihre heiter glänzenden Augen blieben wachsam auf ihn gerichtet. »Und das mitten im 20. Jahrhundert.«
Sie reichte ihm die Neun Pforten und beobachtete ihn aufmerksam, wie er das Buch langsam durchblätterte. Er gab sich alle Mühe, seine Ungeduld zu verbergen. Am liebsten hätte er sofort begonnen, nach möglichen Unterschieden in den Bildtafeln zu suchen, die im übrigen vollständig waren, wie er mit einem heimlichen Seufzer der Erleichterung feststellte. Die Bibliographie von Mateu enthielt also einen Fehler: In keinem der drei Exemplare fehlte die letzte Bildtafel. Die Nummer drei war stärker beschädigt als das Exemplar Varo Borjas und auch als das von Victor Fargas, bevor es durchs Feuer gegangen war: Nahezu alle Seiten hatten Flecken, da der untere Teil des Buches einmal feucht geworden war. Auch der Einband hätte gründlich restauriert werden müssen, aber wenigstens schien das Exemplar vollständig zu sein.
»Möchten Sie etwas trinken?« fragte die Baronin. »Ich kann Ihnen Kaffee oder schwarzen Tee anbieten.«
Kein Zaubertrank, kein Wurzelgebräu, dachte Corso resigniert. Nicht einmal ein banaler Kräutertee.
»Kaffee, bitte.«
Es war ein sonniger Tag, und der Himmel über den nahe gelegenen Türmen von Notre-Dame strahlte azurblau. Corso ging zu einem Fenster und schob die Scheibengardinen etwas zurück, um das Buch in besserem Licht betrachten zu können. Zwei Etagen tiefer saß das Mädchen in seinem blauen Kapuzenmantel auf einer Bank zwischen den kahlen Bäumen des Seineufers und las ein Buch. Er wußte, daß es die Drei Musketiere waren, denn die trug sie bei sich, als sie einander beim Frühstück getroffen hatten. Später war der Bücherjäger die Rue de Rivoli entlanggegangen, wohl wissend, daß ihm das Mädchen in einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Schritten folgte. Aber er hatte sie absichtlich ignoriert, und sie war nicht näher gekommen. Jetzt merkte er, daß sie die Augen hob. Obwohl sie Corso zweifellos sehen konnte, wie er mit den Neun Pforten in der Hand am Fenster stand, gab sie durch nichts zu verstehen, daß sie ihn erkannt hatte, und beschränkte sich darauf, reglos heraufzuschauen, bis er sich ins Innere des Zimmers zurückzog. Als Corso später noch einmal hinausblickte, hatte sie den Kopf wieder über ihren Roman gebeugt.
Es gab eine Sekretärin, eine Frau mittleren Alters mit einer dicken Hornbrille, die zwischen den Büchern und Tischen umherhuschte, aber Frida Ungern servierte den Kaffee persönlich: zwei Tassen auf einem silbernen Tablett, das sie geschickt balancierte. Ein Blick von ihr genügte, um Corso davon abzubringen, ihr seine Hilfe anzubieten. Sie ließen sich beide an ihrem Schreibtisch nieder, wo sie das Tablett sicher zwischen Büchern, Blumentöpfen, Akten und Notizzetteln abstellte.
»Wie sind Sie auf die Idee mit der Stiftung gekommen?« »Steuererleichterungen ... Außerdem kommen mich hier viele Leute besuchen, und ich mache interessante Bekanntschaften, die mir auch für meine Studien nützlich sind .« Sie setzte ein melancholisches Lächeln auf. »Ich bin die letzte Hexe und habe mich einsam gefühlt.«
»Hexe? Aber was sagen Sie denn da . « Corso setzte das passende Gesicht auf: schlagfertiges, nettes Häschen. »Ich habe Ihre Isis gelesen.«
Die Baronin hielt die Kaffeetasse in der linken Hand und hob ein wenig den Stumpf des anderen Arms, während sie gleichzeitig den Kopf neigte, als wolle sie ihr Haar im Nacken ordnen. Diese Geste wirkte überhaupt nicht geziert. Sie war spontan und zugleich alt wie die Welt selbst . eine unbewußte Koketterie der alten Dame. »Und hat sie Ihnen gefallen?« »Sehr.«
»Anderen überhaupt nicht. Wissen Sie, was der Osservatore Romano beanstandet hat? Daß ich den Index der Inquisition unterschlagen habe.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Neun Pforten, die Corso neben sich auf den Tisch gelegt hatte. »Sie haben schon recht: In anderen Zeiten wäre ich bei lebendigem Leibe verbrannt worden, wie der Ärmste, der dieses Evangelium nach Beelzebub verfaßt hat.« »Glauben Sie wirklich an den Teufel, Baronin?« »Nennen Sie mich nicht Baronin. Das klingt lächerlich.« »Wie möchten Sie denn angesprochen werden?« »Ich weiß nicht. Frau Ungern. Oder Frida.« »Glauben Sie an den Teufel, Frau Ungern?« »Meinen Sie, ich hätte ihm mein Leben, meine Bibliothek, diese Stiftung und viele Jahre Arbeit gewidmet, wenn ich nicht an ihn glaubte?« Sie musterte Corso neugierig. Er hatte seine Brille abgenommen, um die Gläser zu putzen, und das hilflose Lächeln, das er dabei aufsetzte, vervollständigte den Effekt. »Und Sie?«
»Das werde ich in letzter Zeit von allen gefragt.«
»Klar. Schließlich stellen Sie Nachforschungen über ein Buch an, dessen Lektüre eine gewisse Art von Glauben voraussetzt.«
»Mit meinem Glauben ist es nicht weit her«, gestand Corso und riskierte einen Anflug von Ehrlichkeit - genau den Grad von Offenheit, der sich für gewöhnlich auszahlte. »In Wirklichkeit arbeite ich für Geld.«
Ihre Grübchen wurden tiefer. Vor fünfzig Jahren muß sie sehr schön gewesen sein, dachte Corso. Damals, als sie Geister beschwor, oder was auch immer, und noch beide Arme dran waren . klein und temperamentvoll . Man sah es ihr heute noch an.
»Schade«, erwiderte Frida Ungern. »Andere, die kostenlos gearbeitet haben, waren felsenfest davon überzeugt, daß es den Protagonisten dieses Buches tatsächlich gibt. Albertus Magnus, Raimundus Lullus, Roger Bacon, sie alle haben nie über die Existenz des Teufels diskutiert, sondern nur über die Beschaffenheit seiner Attribute.«
Corso rückte seine Brille zurecht und setzte ein haarscharf dosiertes Lächeln auf.
»Das waren noch andere Zeiten.«
»Nun, wir brauchen gar nicht so weit zurückzugehen. Der Teufel existiert nicht nur als Symbol des Bösen, sondern in leibhaftiger Form ...Was sagen Sie dazu? Das hat Papst Paul VI. im Jahr 1974 geschrieben.«
»Und der war ein Profi«, gab Corso schulterzuckend zu. »Wenn der es nicht wußte .«
»In Wahrheit hat er bloß ein altes Dogma bekräftigt: Die Existenz des Teufels ist 1215 im vierten Laterankonzil festgelegt worden.« Sie unterbrach sich und warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Interessieren Sie diese Daten? Ich weiß, daß ich den Leuten mit meiner Gelehrtheit ganz schön auf den Wecker gehen kann.« Und wieder erschienen die Grübchen. »Ich wollte schon immer die Klassenbeste sein. Das kluge Mäuschen.«
»Und das waren Sie bestimmt. Haben Sie auch Auszeichnungen bekommen?«
»Natürlich. Und die anderen Mädchen haben mich deswegen gehaßt.«
Sie lachten beide, und der Bücherjäger wußte, daß er Frida Ungern jetzt auf seiner Seite hatte. Er zog also zwei Zigaretten aus der Manteltasche und bot ihr eine davon an, aber sie lehnte ab und machte eine vorwurfsvolle Miene. Corso ging nicht darauf ein und zündete sich eine Zigarette an.
»Zwei Jahrhunderte später«, fuhr die Baronin fort, während Corso noch über das brennende Streichholz gebeugt war, »verkündete Papst Innozenz VIII. in der Bulle Summis Deside-rantes Affectibus, daß Westeuropa mit Dämonen und Hexen verseucht sei. Daraufhin verfaßten die beiden Dominikanermönche Kramer und Sprenger den Malleus Maleficarum: den >Hexenhammer< der Inquisitoren .«
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