»Du bist schlau.«
»Klar bin ich das. Deswegen haben sie mich ja mit dieser Sache beauftragt.«
Jetzt entschloß sich das Mädchen, doch einzutreten. Corso betrachtete ihre nackten Füße neben dem Bett. Ihre Augen wanderten über die verkohlten Papierfetzen.
»Fargas hat das Buch jedenfalls nicht verbrannt«, stellte er fest. »Dazu wäre er niemals in der Lage gewesen . Was haben sie mit ihm gemacht? Einen Selbstmord inszeniert, wie mit Enrique Taillefer?«
Das Mädchen erwiderte nichts. Sie hatte eines der Fragmente in die Hand genommen und versuchte zu entziffern, was darauf geschrieben stand.
»Beantworte dir deine Fragen selbst«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen. »Deswegen haben sie dich doch mit dieser Sache beauftragt, oder?«
»Und du?«
Sie las und bewegte dabei stumm die Lippen, als wäre ihr der Text vertraut. Als sie das Fragment wieder auf die Bettdecke zurücklegte, schlich sich ein vielsagendes, nostalgisches Lächeln in ihre Mundwinkel, das überhaupt nicht zu ihrem jungen Gesicht passen wollte.
»Das weißt du doch: Ich bin hier, um auf dich achtzugeben. Du brauchst mich.«
»Was ich brauche, ist mehr Gin.«
Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und nahm den letzten Schluck aus der Flasche, um seinen Ärger hinunterzuspülen oder seine Verwirrung. Smaragdgrün und schneeweiß, die Augen und das Lächeln in dem sonnenverbrannten Gesicht, der schlanke, nackte Hals, auf dem eine feine Ader pulsierte. Verdammt und zugenäht! Was soll der Quatsch, Corso? Weiß kaum noch, wo ihm der Kopf steht, und befaßt sich mit braunen Armen, zierlichen Handgelenken, schmalen, langen Fingern. Gibt sich mit solchem Unsinn ab. Plötzlich fiel ihm auf, daß sich unter dem T-Shirt des Mädchens zwei herrliche Brüste abzeichneten, die er bisher noch gar nicht recht in Augenschein genommen hatte. Seine Intuition sagte ihm, daß sie braun und schwer waren, dunkles Fleisch unter dem weißen Baumwoll-hemd, eine Haut, auf der Licht und Schatten spielten. Und dann wunderte er sich wieder über ihre Größe. Sie war mindestens so groß wie er.
»Wer bist du?«
»Der Teufel«, sagte sie. »Der verliebte Teufel.«
Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Das Buch von Cazotte lag neben dem Memorial von St. Helena auf der Kommode. Das Mädchen betrachtete es, ohne es zu berühren. Dann legte sie einen Finger auf seinen Deckel und sah Corso an.
»Glaubst du an den Teufel?«
»Ich werde dafür bezahlt, daß ich an ihn glaube. Wenigstens für die Dauer dieses Auftrags.«
Sie nickte bedächtig mit dem Kopf, als hätte sie seine Antwort schon erwartet, und beobachtete Corso mit halb geöffneten Lippen, neugierig, als laure sie auf ein Zeichen oder eine Geste, die nur sie zu deuten verstand.
»Weißt du, warum mir dieses Buch gefällt?«
»Nein. Sag es mir.«
»Weil die Heldin aufrichtig ist. Sie wendet ihre Liebe nicht einfach als List an, um in den Besitz einer Seele zu gelangen. Biondetta ist jung und ohne Falsch, sie liebt an Alvaro dieselben Dinge, die der Teufel am Menschen bewundert: seinen Mut, seine Unabhängigkeit ...« Ihre Wimpern verschleierten einen Moment lang die schillernde Iris. »Seinen Wissensdrang und seine Geistesschärfe.«
»Du scheinst mir ja ziemlich gut informiert. Was weißt du von diesen Dingen?«
»Viel mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Ich stelle mir überhaupt nichts vor. Ich beziehe meine Kenntnisse darüber, was der Teufel mag und was er verabscheut, ausschließlich aus der Literatur: Das verlorene Para-dies, die Divina Commedia, Die Brüder Karamasow und natürlich Faust.« Er machte eine vage Geste. »Mein Luzifer ist ein Luzifer aus zweiter Hand.«
Das Mädchen setzte ein spöttische Miene auf.
»Und welcher von ihnen gefällt dir am besten? Der von Dante?«
»Um Himmels willen! Der ist ja wirklich grauenerregend. Viel zu mittelalterlich für meinen Geschmack.«
»Mephistopheles?«
»Nein, auch nicht. Der tut so affektiert und erinnert mich mit seinen billigen Tricks immer an einen Winkeladvokaten. Ein richtiger Schlauberger ... Außerdem kann ich Typen nicht leiden, die dauernd grinsen.«
»Und was ist mit dem aus den Brüdern Karamasow?«
Corso verzog angewidert das Gesicht.
»Ein Fiesling. Vulgär wie ein Beamter mit schmutzigen Fingernägeln.« Er hielt inne und dachte eine Weile nach. »Ich glaube, mir ist der gefallene Engel von Milton am liebsten«, sagte er dann und sah sie fragend an. »Das war es doch, was du hören wolltest, nicht?«
Sie lächelte geheimnisvoll. Ihre Daumen hingen immer noch in den Taschen ihrer Bluejeans, die hauteng an ihren Hüften anlagen. Er hatte noch nie jemanden gesehen, dem Jeans so gut standen wie ihr. Natürlich brauchte es dazu auch diese langen Beine: die Beine einer jungen Tramperin, Rucksack im Straßengraben und alles Licht der Welt in den verhexten grünen Augen.
»Wie stellst du dir Luzifer vor?« fragte sie ihn.
»Keine Ahnung.« Der Bücherjäger dachte einen Moment lang nach, bevor er gleichgültig mit der Schulter zuckte. »Schweigsam und verschlossen, denke ich. Gelangweilt.« Er schnitt eine säuerliche Grimasse. »Auf seinem Thron mitten in einem öden Saal, im Zentrum eines wüsten, kalten und monotonen Reichs,
in dem nie etwas passiert.«
Sie betrachtete ihn stumm.
»Du überraschst mich, Corso«, sagte sie endlich und wirkte echt beeindruckt.
»Warum? Jeder kann Milton lesen. Sogar ich.«
Er sah, wie sie langsam um das Bett herumging, im Halbkreis, immer dieselbe Entfernung einhaltend, bis sie zwischen ihm und der Lampe stand, die das Zimmer erhellte. Damit hatte sie - ob zufällig oder absichtlich - eine Position eingenommen, in der ihr Schatten auf die Fragmente der Neun Pforten fiel, die über die Bettdecke verteilt waren.
»Du hast soeben den Preis genannt.« Im Schein des von hinten kommenden Lichts zeichneten sich jetzt nur die Umrisse ihres Kopfes ab, während das Gesicht im Schatten lag. »Stolz, Freiheit . Wissen. Am Anfang oder am Ende muß man für alles bezahlen. Sogar für den Mut, glaubst du nicht? Findest du nicht auch, daß sehr viel Mut dazu gehört, Gott die Stirn zu bieten?«
Ihre Worte waren nur ein Flüstern in der Stille, die durch die Tür- und Fensterritzen kroch und sich langsam im Zimmer ausbreitete. Selbst das Rauschen des Verkehrs, draußen auf der Straße, schien verstummt zu sein. Corso betrachtete abwechselnd die beiden Silhouetten: eine in Form ihres Schattens, der sich auf dem Bett und auf den Buchfragmenten abzeichnete, die andere leiblich und aufrecht im Schein der Lampe. Und in diesem Augenblick fragte sich Corso, welche der beiden wohl realer war.
»Mit all diesen Erzengeln«, fügte sie oder ihr Schatten hinzu. Verachtung und Groll klangen aus dem Satz, und beinahe war es Corso, als höre er einen abfälligen Seufzer aus ihm heraus. »Schön. Perfekt. Diszipliniert wie Nazis.«
In diesem Moment wirkte sie überhaupt nicht jung. Ja, sie schien eine jahrhundertealte Müdigkeit mit sich herumzuschleppen - ein unheimliches Erbe, die Bürde einer Schuld, die Corso in seiner Verwunderung und Konfusion nicht zu interpretieren wußte. Vielleicht war letzten Endes weder der Schatten auf dem Bett noch die Silhouette real, die sich im Gegenlicht der Lampe abzeichnete.
»Im Prado hängt ein Bild, erinnerst du dich, Corso? Männer, die mit nichts als einem Messer bewaffnet sind, und Reiter, die mit Säbeln auf sie eindringen. Ich habe mir immer vorgestellt, daß der rebellierende Engel vor seinem Fall dieselben verirrten Augen hatte, wie diese Unglücklichen mit ihren Messern. Aus ihrem Blick spricht der Mut der Verzweiflung.«
Sie war beim Sprechen ein wenig zur Seite getreten, nur wenige Zentimeter, aber dabei war auch ihr Schatten in Bewegung geraten und hatte sich Corso genähert, als besitze er einen eigenen Willen.
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