»Ich glaube, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt.« Sein Lächeln war noch nicht ganz verschwunden, als er einen gut verpackten Gegenstand aus der Segeltuchtasche zog. »Mir geht es lediglich darum, das Buch ein bißchen genauer zu untersuchen und ein paar Notizen zu machen.« Er klopfte leicht auf seine Tasche, während er Frida Ungern mit der anderen Hand den eingewickelten Gegenstand reichte. »Ich habe alles Nötige dabei, Sie werden sehen.«
Die Baronin öffnete das Päckchen und betrachtete schweigend seinen Inhalt. Es handelte sich um ein dickes Faszikel in deutscher Sprache - Berlin, September 1943 - mit dem Titel Iden: eine monatlich erscheinende Zeitschrift der LoheGesellschaft, die während des Dritten Reichs von Anhängern der Magie und Astrologie gegründet worden war und den nationalsozialistischen Machthabern nahegestanden hatte. Auf einer Seite, die Corso mit einem Papierstreifen gekennzeichnet hatte, gab es verschiedene Fotos, und auf einem von ihnen lächelte Frida Ungern in die Kamera. Sie hatte noch beide Arme und stand eingehakt zwischen zwei Männern: Der zu ihrer Rechten war in Zivil und wurde im Begleittext der Fotografie als persönlicher Astrologe des Führers ausgewiesen, während man sie - das werte Fräulein Frida Wender - als seine Assistentin vorstellte. Der Mann zu ihrer Linken trug eine Metallbrille und machte einen ziemlich schüchternen Eindruck. Er steckte in der schwarzen Uniform der SS, und man brauchte nicht erst die Bildunterschrift zu lesen, um Reichsführer Heinrich Himmler zu erkennen.
Als Frida Ungern, geborene Wender, ihre Augen von der Zeitschrift hob und dem Blick des Bücherjägers begegnete, hatte sie überhaupt nichts von einer netten Oma. Aber sie fing sich sofort wieder und nickte langsam, während sie sorgfältig die Seite aus dem Heft heraustrennte und in winzige Stücke riß. Auch die Hexen und die Baroninnen und die alten Damen, die in Zimmern voller Bücher und Topfpflanzen arbeiten, haben ihren Preis, dachte Corso, wie jeder Mensch. Victa iacet virtus. Und warum hätte es auch anders sein sollen.
Als Corso endlich allein war, richtete er sich an einem Tisch vor dem Fenster ein. Er zog das Dossier aus der Tasche, legte die Neun Pforten vor sich hin und schlug sie bei der Titelseite auf. Bevor er zu arbeiten begann, lüftete er ein wenig die Gardine und warf einen Blick hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein BMW geparkt. Rochefort stand also beharrlich Wache. Corso schaute auch zu der Bar an der Ecke hinüber, aber das Mädchen war nicht zu sehen.
Dann wandte er sich dem Buch zu: Beschaffenheit des Papiers, Drucktiefe der Holzschnitte und Errata. Mittlerweile wußte er, daß die drei Exemplare nur formal miteinander identisch waren: schwarzer Ledereinband ohne Titel, fünf Bünde, Pentagramm auf dem Deckel, Anzahl der Blätter, Verteilung der Bildtafeln ... Mit Eselsgeduld ging er Seite um Seite durch und vervollständigte die komparativen Tabellen, die er mit der Nummer eins begonnen hatte. Auf Seite 81 fand er neben der unbedruckten Rückseite des fünften Holzschnitts ein Karteikärtchen der Baronin, auf dem eine weitere Textpassage entschlüsselt und übersetzt war:
Du erklärst dich einverstanden mit dem Bündnispakt, den wir schließen, indem ich mich an dich ausliefere. Und du versprichst mir die Liebe der Frauen und die Unschuld der Jungfern und die Keuschheit der Nonnen, die Würden, die Genüsse und die Reichtümer der Mächtigen, der Adligen und Geistlichen. Ich werde alle drei Tage huren und mich köstlichem Rausch hingeben. Dafür verpflichte ich mich, einmal im Jahr diesen Vertrag zu erneuern, den ich mit meinem Blut unterzeichne. Ich werde dich anbeten und mit den Füßen auf den kirchlichen Sakramenten herumtrampeln. Ich brauche weder Strang noch Schwert, noch Gift zu fürchten und werde zwischen Pestkranken und Aussätzigen umhergehen können, ohne daß mein Fleisch den geringsten Schaden nimmt. Vor allem aber werde ich jene Erkenntnis erlangen, um deretwil-len meine Urahnen auf das Paradies verzichtet haben. Dieser Pakt bevollmächtigt dich, mich aus dem Buch des Lebens zu streichen und in das schwarze Buch des Todes einzutragen. Und ab sofort werde ich zwanzig Jahre glücklich auf der Erde der Menschen leben. Und nach Ablauf dieser Frist werde ich dir in dein Reich folgen und Gott verfluchen.
Auf der Rückseite des Kärtchens war auch ein Absatz von einer anderen Seite übersetzt:
Ich werde deine Diener, meine Brüder, an einem Merkmal erkennen, das sie an irgendeiner Stelle ihres Körpers tragen, hier oder dort, eine Narbe oder ein Zeichen, das du ihnen aufgeprägt hast.
Corso fluchte leise und andauernd, als murmle er ein Gebet. Dann betrachtete er die vielen Bücher, die ihn umgaben, ihre abgegriffenen, dunklen Rücken, und hatte plötzlich das Gefühl, als dringe aus ihrem Inneren ein seltsames Rumoren an sein Ohr. Jeder einzelne dieser geschlossenen Bände war eine Tür, hinter der sich Schatten bewegten, Stimmen und Geräusche, die sich aus düsteren Tiefen einen Weg zu ihm bahnten. Und bei dieser Vorstellung lief es ihm kalt über den Rücken. Wie einem hundsgewöhnlichen Spiritisten.
Es war Nacht, als er das Haus der Baronin verließ. Unter dem Portal blieb er einen Augenblick stehen, um nach rechts und links zu spähen, aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Der graue BMW war verschwunden. Von der Seine stieg feiner Nebel auf, der über die steinerne Uferbrüstung quoll und sich auf das feuchte Kopfsteinpflaster legte. Die gelblichen Lichter der Straßenlaternen, die in regelmäßigen Abständen die Uferstraße erhellten, spiegelten sich auf dem Boden und beschienen die leere Bank, auf der das Mädchen gesessen hatte.
Corso ging zur Bar an der Ecke, ohne ihr zu begegnen, und dort angekommen, suchte er ihr Gesicht vergeblich unter denen, die sich am Tresen und an den kleinen Tischen im hinteren Teil des Lokals drängten. Sein Gefühl sagte ihm, daß hier etwas nicht stimmte, daß in diesem Puzzle ein Teil am falschen Platz lag. Seit dem Telefonanruf, mit dem das Mäd-chen ihn vor Rochefort gewarnt hatte, läutete in seinem Kopf eine Alarmglocke. Die Ereignisse der letzten Tage hatten seinen Instinkt geschärft, und deshalb witterte er eine nicht zu greifende Gefahr, draußen, auf der verlassenen Straße und in den Dunstschwaden, die vom Fluß heraufzogen und sich bis an die Tür des Lokals ausbreiteten. Er versuchte die unheilvollen Ahnungen mit einem Schulterzucken abzuschütteln, kaufte ein Päckchen Gauloises und zog sich zwei Gläser Gin rein, eins unmittelbar nach dem andern, ohne mit der Wimper zu zucken, bis sich seine Nasenlöcher weiteten. Alles nahm wieder seinen angestammten Platz im Universum ein, das Kameraobjektiv stellte sich scharf. Die Alarmglocke war jetzt kaum noch zu hören, und die Geräusche der Außenwelt drangen wie durch ein dickes Kissen an sein Ohr. Mit einem dritten Glas Gin in der Hand setzte er sich an einen freien Fenstertisch und blickte durch die beschlagene Scheibe auf die Straße hinaus. Der feine Nebel, der vom Ufer heraufschwebte und über die Pflastersteine kroch, wurde nur dann und wann von den Rädern eines Autos aufgewirbelt. So blieb Corso eine Viertelstunde sitzen und hielt Ausschau nach irgend etwas, das verdächtig sein könnte. Die Segeltuchtasche hatte er sich zwischen die Füße geklemmt. Sie enthielt einen Großteil der Antworten auf Varo Borjas Rätsel - der Bibliophile gab sein Geld nicht umsonst aus.
Als erstes hatte Corso das Problem mit den Varianten in acht der neun Bildtafeln gelöst. Das Exemplar Nummer drei enthielt im Vergleich zu den beiden anderen Exemplaren zusätzliche Abweichungen in Abbildung I, III und VI. Auf dem ersten Holzschnitt ragten statt vier nur drei Türme aus der mauerbewehrten Stadt auf, in die der Ritter unterwegs war. Die Abweichung in der dritten Tafel bestand darin, daß der Köcher des Bogenschützen einen Pfeil enthielt, während er in den Exemplaren aus Toledo und Sintra leer war. Und auf der sechsten Abbildung hatte der Erhängte den Strick um den rechten Fuß, in den anderen beiden Exemplaren dagegen um den linken Fuß. Die komparative Tabelle, die er in Sintra begonnen hatte, ließ sich also folgendermaßen vervollständigen:
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