Am wichtigsten war freilich, daß Clara Foresta es ebenfalls geschafft hatte, die Hütte zu erreichen. Allerdings hatte sie sich unterwegs verletzt, war am Gipfel der Sonnenspitze ein Stück abgerutscht. Glücklicherweise waren zwei Bergsteiger in der Nähe gewesen und hatten sie geborgen. Die alte Dame hatte jedoch darauf bestanden, nicht in die nahe gelegene Gipfelhütte des Glungezer gebracht zu werden, sondern hinunter zur Tulfeinalm. Zur Chefin. Und so kam es, daß Mercedes seine Frau genau an der erwarteten Stelle traf. Mit einem Kreuzbandriß, einigen Prellungen und einer Schnittwunde quer über die Stirn, einem dunkelroten Streifen, der exakt dieselbe Färbung aufwies wie das Rouge auf Forestas Wangen, auch wenn man es umgekehrt sehen konnte. In jedem Fall wirkte die Verletzung als ein Teil der kosmetischen Farbgestaltung dieses Gesichts.
Die Männer, die um Foresta saßen — egal, wie alt sie war, sie verfügte weiterhin über eine magnetische Wirkung — , machten Platz für Mercedes, der nun die Hände seiner Frau ergriff und sich überzeugte, daß diesen nicht das geringste geschehen war. Es war echte Sorge. Allerdings kam mir der Verdacht, daß er sich auch um sich selbst sorgte, weil er fürchtete, in eine wahrhaftige Hölle zu geraten, hätte seine Frau das Klavierspiel aufgeben müssen.
Doch ihre Hände waren vollkommen in Ordnung, die Finger zitterten in der vertrauten Art, und glücklicherweise gab es sogar ein Klavier in diesem Haus. Keinen Steinway-Flügel, das nicht, aber ein ganz ordentlich gestimmtes Piano, auf dem Clara ihre Einstudierung von 825 (so das Bach-Werke-Verzeichnis) fortsetzen konnte. Ja, wir sprachen von nun an nur noch von 825, wenn wir diese Komposition meinten (und außerdem auch meinten, daß 825 eigentlich mehr von Foresta als von Bach stammte und man wegen Forestas Handicap zur Zeit von einer» Kreuzbandrißversion «sprechen konnte).
Auch hier am neuen Ort konnte ich also in der Nacht die sechs Klavierstücke hören, die Foresta übte, wenn alle zu Bett gegangen waren. Und niemand wagte es, etwas dagegen zu haben. Foresta tapezierte die Nacht mit ihrer Musik. Allerdings tat sie dies — wie ich rasch begriff — in einer neuen, dem Original widersprechenden Reihenfolge. Sie kreierte eine den besonderen Umständen und dem Ort geschuldete Spezialversion: 825 reloaded . — Ich benötigte eine halbe Nacht, um das neue System definitiv zu verstehen, wobei auf Grund der Schleifenbildung nun jedes der sechs Stücke das erste oder letzte sein konnte. Nicht, daß ich daraus eine Symbolik bezog. Ich war einfach froh darum, die neue Reihenfolge benennen zu können. (Es war eine der mystischen Vorstellungen meiner Kindheit, mitten in der Nacht von einer höheren Macht geweckt und nach etwas scheinbar vollkommen Bedeutungslosem gefragt zu werden, etwa wie viele Eierbecher im Küchenschrank stehen oder ob die Knöpfe auf der Waschmaschine alle weiß sind oder ob meine sämtlichen Plastikindianer eine gerade Zahl bilden oder nicht. Ich war zu dieser Zeit etwas jünger als Simon jetzt, und mir war es so vorgekommen, daß, wenn ich eine solche Frage würde beantworten müssen, es dann um Leben und Tod ginge. Die richtige Zahl an Eierbechern würde die Welt retten, eine falsche den Untergang bewirken. Kinder denken so was, Erwachsene nicht. Zumindest lassen sich die wenigsten Erwachsenen dabei erwischen, wenn sie vor einem Küchenschrank stehen und murmelnd Zahlen memorieren.)
Man kann sagen, daß die Stimmung in der Hütte bestens war. Offensichtlich gab es nicht nur ein gut ausgestattetes Lager an Lebensmitteln, sondern auch an alkoholischen Getränken. Man würde hier schon eine ganze Zeit durchhalten können. Ja, es war deutlich zu sehen, wie wenig die Leute sich nach einer unmittelbaren Rettung sehnten und wie sehr das Abgeschnittensein von der Welt sie erfreute.
Und in der Tat: Es herrschte ein Matriarchat.
Aber ein kluges. Zweifellos. Die Männer wurden hier nicht zu Sklaven gemacht, sondern blieben Gäste und wurden als solche behandelt. Die gutgebaute Wirtin war weiterhin Wirtin, ließ sich nicht etwa bedienen, sondern bediente, servierte also die Getränke und das Essen und kassierte. Nur wenn zuviel Arbeit zusammenkam oder eine ihrer kellnernden Töchter eine Pause machte, wurde ein Mann herbeigewunken, und man nahm ihn in die Pflicht. Manch einer bekam dann einen Klaps auf den Hintern.
Unmöglich hingegen, daß ein Mann sich seinerseits einen solchen Klaps hätte erlauben dürfen. Es hatte sich ausgeklapst. Hätte es einer von ihnen versucht, die Wirtin hätte ihn hinausgeschmissen. Und keiner hätte ihm geholfen. Das erste, was nämlich im Matriarchat verschwindet, ist die Solidarität der Männer. Sie geben sich in dieser Hinsicht völlig auf.
Das Ganze hier wirkte schon ungemein organisch: die Hütte als Pflanze, voll mit Wesen, die mit und in der Pflanze lebten und über eine Königin verfügten.
Die Art, wie die Frauen (alle waren in irgendeiner Weise mit der Chefin verwandt oder befreundet) mit den Männern sprachen, war so vergnügt wie anzüglich. Aber es war eben mehr eine Koketterie — man könnte auch sagen: ein Sexismus — , als daß wirklich etwas geschehen wäre. Auf den Punkt gebracht: Hier wurde niemand vergewaltigt oder zu etwas gezwungen, was er nicht wollte.

Es war sehr bezeichnend, daß sowohl Mercedes wie auch ich selbst dadurch respektiert wurden, daß wir Frauen hatten, beziehungsweise die Frauen uns. Kerstin hatte mich und Foresta ihren Mercedes, welcher in höchstem Maße bemüht war, seine vom Sturz verwundete Frau zu betreuen. Er wich kaum von ihrer Seite. Und brachte erneut seine selbstzubereitete Salbe zum Einsatz, die auch bei Kerstin letztendlich gewirkt hatte. Er trug sie gleichermaßen zärtlich wie bestimmt auf die verletzten Stellen seiner Frau auf. Die Chefin sagte einmal:»Der Mercedes würde mir auch gefallen. «Aber sie ließ ihre Finger von ihm. Die Klugheit der Tulfeinalm-Frauen bestand nicht zuletzt darin, einander in diesem Punkt nicht in die Quere zu kommen, gleich, wer welche Position innehatte. Ob Dienstmädchen oder Hohepriesterin. Die Chefin sagte also,»Der würde mir auch gefallen«, unterließ es aber, Marc Mercedes auch nur komisch anzusehen.
Es war wirklich unglaublich eng in dieser Hütte, überall waren Menschen, auch viele Kinder, im großen Gastraum genauso wie in den Zimmern und Fluren. Zudem war es sagenhaft warm, und in der Luft hing ein Dschungelgeruch. Man fühlte sich wie in den Tropen, nur daß diese Feuchtigkeit stark vom Schnaps durchmischt war. Als würden die Wände Alkohol schwitzen. Aus der offenen Küche drangen die Geräusche geschlagenen Fleisches und der Geruch werdender Mehlspeisen. Die Hütte war schon immer für ihren Kaiserschmarrn und ihren Apfelstrudel berühmt gewesen sowie für eine Suppe, in der ein flachgedrücktes, aus Semmelknödelteig und Bergkäse hergestelltes und mit Schnittlauch bestreutes kreisrundes Laibchen schwamm, was insgesamt eine sogenannte Kaspreßknödelsuppe ergab. Jedes servierte Laibchen verfügte über eine ungewöhnliche Einbuchtung am Rande, die ohne Funktion war, jedoch als Markenzeichen fungierte. Denn man bildete sich hier nicht wenig auf seine Kaspreßknödel ein. Sehr zu Recht, wie ich sagen muß. Die besten Knödel ihrer Art herzustellen schien der unbedingte Ehrgeiz des Kochs und seiner beiden Gehilfen zu sein, die man fast immer nur in ihrer» Werkstatt «sah. Kamen sie einmal heraus, so standen sie kurz an der Theke, wo sie eine Zigarette rauchten und ein Bier sowie den obligaten hellen Schnaps tranken. Einer der Gehilfen war ein Asiate, der mir sogleich auffiel, weil er recht großgewachsen war, vor allem aber wegen der Art und Weise, wie er seine Zigarette hielt, was ungemein aristokratisch anmutete. Der ganze Mann wirkte, als wäre er der Kaiser von China, der gerade Europa besuchte, um die Herstellung von Kaspreßknödeln zu studieren und anschließend in die chinesische Küche zu integrieren. Allerdings erfuhr ich dann, daß der Mann Auden hieß. Ich meine, welcher Chinese bitte schön heißt Auden? Noch dazu mit Vornamen. Auden Chen.
Читать дальше