Doch Marie schwieg penetrant und so mußte Lenné, von einem unwiderstehlichen Impuls gepackt, plötzlich aufstehen und sich verabschieden. Jemand ohne Argwohn hätte dies vielleicht der Rastlosigkeit des Gärtners zugeschrieben, Marie aber spürte die Abneigung nur zu genau.
»Herr Director …«, bat Gustav leise und obwohl er den Satz nicht beendete, verstand Lenné sofort, was sein Gehülfe meinte, und nickte ihm gönnerhaft zu.
»Aber komme er gleich nach!«
Während Lennés eilige Schritte auf dem Kies leiser wurden, war Marie unfähig zu einem anderen Gefühl als dem Glück, Gustav so überraschend einen Moment lang für sich zu haben, und dachte an die Feier vor ein paar Wochen, zum Abschluß seiner Lehre. Der Onkel hatte, wie es Sitte war, den Lehrbrief eigenhändig ausgefertigt, mit seiner aufwendigsten Schrift auf gutem Pergament. Damit wurde Gustav zum Gartengehülfen, wie es in Preußen hieß, und es stand zu erwarten, daß er bald auf Reisen gehen würde, um andere Gärten kennenzulernen. In die für ihre Treibereien berühmten Niederlande vielleicht, oder nach Frankreich, oder gar nach England, dem Wegbereiter der neuen, natürlichen Gartenmode. Marie erinnerte sich daran, wie sie an jenem Abend alle um den Eßtisch saßen und der Onkel den Wein eingoß, die Tante mit ihren beiden anderen Söhnen Julius und Otto, auch Christian war aus Klein Glienicke gekommen, und noch einmal war es beinah wie in ihrer Kindheit gewesen.
»Marie?«
Obgleich er sie verschlossen und kalt ansah, wie sie wohl bemerkte, konnte sie nicht anders, als ihn anzulächeln. »Ja?«
»Ich gehe weg. Gleich nachher. Ich hab’ schon gepackt und mich von allen verabschiedet. Der Director nimmt mich mit nach Berlin.«
Marie schüttelte den Kopf.
»Ich mache das Einjährige. Und studiere. Und dann reise ich. Lenné hat dafür gesorgt, daß ich ein Stipendium erhalte vom König.«
Lenné. Bei diesem Namen bemächtigte sich ihrer wieder das Gefühl von Peinlichkeit, und sie fühlte sich wieder so schmutzig und häßlich wie eben unter seinem Blick. Sie hätte gern darüber geklagt, verbot es sich aber, wußte sie doch, was Gustav ihm verdankte.
»Und wie lange wirst du fort sein?«
Dasselbe hatte sie ihren Bruder gefragt. Alle gingen fort, nur sie blieb hier. Dabei war es doch ihre Insel, Christians und Gustavs und ihre Insel.
»Auf Wiedersehen«, sagte Gustav im Aufstehen, als hätte er ihre Frage nicht gehört.
Wie schön er ist, dachte sie wieder und konnte nicht anders, als die Arme auszustrecken, damit er sie umhalse. Doch er wich zurück, lächelnd zwar, doch Schritt für Schritt, und der Kies des Rosengartens knirschte laut unter seinen Schuhen.

Die Blüte des Seltsamen oder auch Wunderlauchs, Allium paradoxum , den Ferdinand Fintelmann an der Anlegestelle hatte pflanzen lassen und die mit einem penetranten Zwiebelgeruch einherging, der unangenehm in die Nase stach, war eben vorüber, als Marie an einem frühen Morgen, an dem dichter Nebel über die Havel kroch, am Steg stehenblieb. Sie hatte zufällig die Glocke gehört, ganz leise nur, die eine Überfahrt vom Festland ankündigte, und war neugierig, wer so früh zu ihnen komme.
Zunächst hörte sie nur das Schwappen des Wassers gegen die Bordwand der Fähre, dann tauchte sie aus dem Weiß auf. Brandes stakte schemenhaft und hoch aufgerichtet am Heck des Kahns, vor sich eine sitzende Gestalt, so ungewöhnlich groß, daß sie dem Fährmann fast bis zur Schulter reichte. Marie wunderte sich noch, wer das wohl sein mochte, da wummerte der Kahn auch schon dumpf gegen den Landungssteg, schrappte mit einem Ächzen die Bohlen entlang, Brandes warf das Tau mit einer Schlaufe um einen der Poller, sprang herüber, machte auch den Bug des Kahns fest, und jene Gestalt stand auf. Marie verschlug es den Atem. Noch nie hatte sie einen so großen Menschen gesehen. Mit einem einzigen ruhigen Schritt war der Mann, der eine alte Uniform trug, auf dem Steg, und obwohl er noch immer gebückt ging, reichte ihm Brandes, der nicht besonders klein war, mit seiner Hutspitze doch nur bis zur Mitte der Brust.
Das muß ein Riese sein, dachte Marie, da waren die beiden auch schon heran, Brandes grüßte artig, der Riese aber verzog keine Miene und sagte kein Wort. Schweigsam und noch ohne Namen, den sie jedoch bald schon erfuhr, stapfte er an ihr vorüber. Carl Ehrenreich Licht, geboren in Utzedel bei Demmin, Sohn eines Ziegelbrenners und Kriegsveteranen, hatte beim 1. Garderegiment gedient und maß fünf Fuß und dreiundzwanzig Zoll, weshalb der König ihm die Pfaueninsel als Wohnort zugewiesen hatte, wo er als Schloßdiener zu beschäftigen war.
Marie sah ihm nach, wie er hinaufschritt zum Kastellanshaus. Sie sah, wie Brandes klopfte und die Tür sich öffnete, sah, wie ein kurzes Gespräch sich entspann, wie dann Brandes im Haus verschwand und wie tief der Riese sich bücken mußte, um hinter ihm durch die Tür zu kommen. Marie schüttelte den Kopf, zog den dünnen Gaze-Shawl enger um die Schultern, raffte den Rock und ging langsam und unsicher hinterher.

Die Känguruhs, an deren Anblick sich Marie nicht gewöhnen konnte, grasten auf der Schloßwiese. Vom frischen Grün stieg ein betörender Duft auf. Marie sah sich nach dem Riesen um, der hinter ihr herging, als wäre er ihr übergroßer Schatten. Sie lächelte ihm zu, und auch das Lächeln, das ihr antwortete, war riesig. Bedächtig ließen die Känguruhs sich auf ihre dünnen Vorderbeine nieder und zogen, auf den langen Schwanz gestützt, die Hinterläufe nach, eine zögerliche, sanftmütige Fortbewegungsweise, bei der sie genüßlich das Gras ausrupften und zwischen ihren mahlenden Kiefern zerrieben wie Ziegen.
»Wie Ziegen!« sagte Marie, und Carl, der Riese, lachte laut und dröhnend. In der Nähe der kleinen Herde stand Hermann Becker, der Tierwärter, mit seiner einzigen Tochter, die Maries zweiten Namen trug, Dorothea, von allen auf der Insel aber stets nur Doro genannt wurde und gerade acht Jahre alt geworden war.
»Und? Gefallen sie dir, die neuholländischen Springhasen?« fragte sie das Kind. »Känguruhs sagt man da, woher sie kommen.«
Doro schüttelte den Kopf. Der Riese setzte sich ins Gras und blinzelte in die Sonne. Seine helle Haut glänzte im Mittagslicht. Er konnte nur schwer stehen, äußerst beschwerlich gehen, die Gelenke. Seine verstorbene Frau, hieß es, habe ihn nur genommen, weil er täglich eine Flasche Wein vom König bekam. Doch er war von großer Sanftmut. Jetzt kniff er die Augen zusammen und sah sich um, und dann erspähte er durch seine transparenten Wimpern etwas. Marie folgte seinem ausgestreckten Arm mit ihrem Blick. Aus dem Schatten des Waldes löste sich eine Gruppe von Menschen, deren kostbare Gewänder zu ihnen herüberglitzerten.
»Das ist der englische Gärtner«, sagte sie, und der Tierwärter sah sich um, als überlegte er, ob es sich wohl lohne anzulegen, doch er ließ die Flinte über der Schulter.
John Adey Repton, der dort vorüberging, war der Sohn des berühmten englischen Landschaftsgärtners Humphry Repton und besuchte in diesem Frühsommer 1822 auf Einladung des Fürsten Pückler den preußischen Hof. Lenné war angewiesen, ihm Sanssouci, Charlottenburg, den Neuen Garten und auch die Pfaueninsel zu zeigen, was ihm bitter war, behauptete Pückler doch bei jeder Gelegenheit, er sei un pauvre génie auprès Repton und habe höchst einseitige, in England längst veraltete Ideen.
Und tatsächlich haftete Lennés ganzer Karriere etwas an, das mit seiner Zierlichkeit zu tun haben mochte, eine gewisse Leichtgewichtigkeit, die in eklatantem Widerspruch zu den Dimensionen seiner Arbeit stand, zum Zuschnitt seiner Planungen und zu dem Heer von Gehülfen, Zeichnern und Gärtnern, das er dirigierte. Wobei seine Ruhmsucht nur der blinde Spiegel der Tatsache war, daß seine Triumphe zu spät kamen, was er auch an diesem Tag, als er hinter dem Sohn Reptons über die Pfaueninsel ging, gespürt haben mochte. Die englische Gartenkunst hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten, und daran änderte auch Lennés gigantisches Umbauprojekt einer ganzen Landschaft zu jenem Raum der Schönheit nichts, von dem die Pfaueninsel nur ein kleiner Teil war.
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