«Kein Problem.«
Der Rabbiner nickte und blieb stehen, erst da fragte Ethan:»Wollen Sie hereinkommen?«
«Keine Angst — ich wollte Ihnen nur mein Beileid ausdrücken und meine Hilfe anbieten. Wenn Sie mich brauchen. Für das Begräbnis.«
Was für ein schwarzgewandeter Geier, dachte Ethan. Er konnte spüren, wie der Geistliche Macht über ihn gewann. Er war nun leichte Beute. Berkowitsch wußte genau, was in einem Hinterbliebenen, mochte er noch so laizistisch sein, vorging. Dort, wo die Soziologen keine Antwort fanden, wurden die Rabbiner zu Experten. Das war ihre Wissenschaft, und sie taugte mehr als ein Placebo, denn selbst wenn einer nicht an die Zeremonien glaubte, halfen sie am Grab.
Er dankte Berkowitsch und erklärte höflich, er würde darüber mit der Familie beraten. Als der Fromme gegangen war, griff er nach seinem Mobiltelefon und überlegte, wen er fragen könnte, ob Berkowitsch der Richtige für diese Aufgabe sei. Er ging die gespeicherten Namen und Nummern durch und stieß dabei auf den Eintrag Papamobil, und da überfiel ihn plötzlich, was geschehen war. Er konnte seinen Vater nie mehr um Rat fragen. Bald schon würde er für Felix Avraham Rosen beten, würde er für seinen Vater Kaddisch sagen.
Am Abend fuhren sie zu Dina. Sie hatte die Spiegel in der Wohnung mit schwarzem Stoff verhängt. Vorsichtig fragte er, was sie denn von der Idee halte, auf das Angebot des Rabbiners einzugehen. Dinas lapidare Antwort:»Warum nicht?«
«Was, wenn er wieder vom Messias spricht«, entgegnete Ethan,»Berkowitsch ist ein Fundamentalist, ein jüdischer Mullah. Wäre Felix nicht schon tot, würde er jetzt vor Ärger sterben.«
Bestattungsrituale waren Felix nie wichtig gewesen. Wo er denn begraben sein wolle, hatte ein österreichischer Geschäftspartner ihn vor Jahren gefragt. In seiner Geburtsstadt Wien, in Chicago oder in Tel Aviv? Oder etwa in Jerusalem? Felix hatte geantwortet, damit beschäftige er sich nicht, aber in Jerusalem wolle er nicht einmal leben. Geschweige denn begraben sein. Dov war Jerusalemer gewesen. Er hatte dort auch ein Grab gekauft, und er hatte nicht Katharina, sondern Dina und Felix gefragt, ob er für sie die beiden Plätze nebenan reservieren lassen solle. Felix hatte dem Freund entgegnet:»Lieber als ein Grab neben dir möchte ich einen Parkplatz vor deinem Haus.«
Die Nachricht vom Tod seines Vaters verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Während Ethan eine Nummer nach der anderen in sein Mobiltelefon tippte, Familienmitgliedern und Freunden Bescheid gab, auf Anrufbeantworter sprach, meldeten sich jene, die die Nachricht von dritter Seite erfahren hatten, auf dem Festnetzanschluß. Ethan erreichte alte Bekannte aus Wien, Paris und Chicago, Geschäftspartner aus Moskau und Singapur. Manche erzählten von anderen Todesfällen, von den Verstorbenen aus der eigenen Familie. Ethan sagte dann:»Ich muß jetzt weitermachen. Du weißt schon: die Vorbereitungen.«
Nimrod Kami, der Schiffseigner, der Felix geraten hatte, auf indische Nieren zu setzen, meinte:»Vielleicht war es für ihn das beste. Er litt so sehr an seiner Krankheit. Du weißt doch. Er wollte nie schwach sein. Er war — ein Mann!«Ethan verabschiedete sich schnell, aber der Gedanke, Felix hätte den anderen nie zur Last fallen wollen, wurde von vielen geäußert.
Ob sie recht damit hatten? Als sich sein Vater das Bein gebrochen hatte, hatte er sich geweigert, einen Stock zu nehmen. Er war später auch nicht zu überreden gewesen, eine stärkere Brille zu tragen, obwohl seine Kurzsichtigkeit zunahm. Felix war bis zum Schluß Auto gefahren, und zwar sehr schnell. Er war ein Raser, als könne er allen Gefahren so besser entgehen. Sein Fahrstil war legendär. Er riß am Lenkrad, stieg abrupt auf die Bremse, um dann wieder aufs Gas zu treten. Auch bei Sturm oder Schneetreiben ließ er den Wagen nicht stehen. Immerhin: Bei richtig schlechten Sichtverhältnissen, wenn für niemanden mehr viel zu erkennen war, hatte sich seine Sehstärke beinahe derjenigen von Normalsichtigen angepaßt. Am schlimmsten aber war es bei Dunkelheit. Felix, weitgehend nachtblind, konnte dann nur noch Schemen und schwache Lichter ausmachen. Seine einzige Orientierung waren die Rücklichter der anderen Wagen. Einmal hatte er Ethan im Audi mitgenommen. Ein alter Kleinlaster parkte mitten auf der Strandpromenade. Der Lieferwagen stand in der Finsternis, während Felix den Boulevard hinunterrollte und angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte. Erst in letzter Sekunde dämmerte es Ethan, daß sein Vater gleich in das abgestellte Fahrzeug donnern würde. Er schrie:»Der steht! Der steht, Abba. «Felix riß das Lenkrad nach links. Die Räder quietschten wie in einer Verfolgungsszene in einem Actionfilm — aber sein Vater blieb ganz ruhig. Er lächelte, als sei nichts vorgefallen, als hätte er die Reifen gar nicht gehört.
Nie mehr würde er mit Abba in einem Auto sitzen, mit seinem Vater, dem das ganze Leben ein Parforceritt, eine Hetzerei gewesen war. Statt dessen saß er da und erzählte den anderen, die er anrief oder die sich bei ihm meldeten, von den Umständen des Todes, von den letzten Wochen, von den letzten Tagen, von den letzten Stunden des Felix Rosen. Vom Streit berichtete er nicht. Auch Rudi ließ er unerwähnt, aber einige fragten nach dem unbekannten Verwandten. Das Gerücht hatte längst die Runde gemacht. Jossef, der Onkel, der den Österreicher im Spital getroffen hatte, erkundigte sich nach dem unehelichen Sohn. Ebenso Jaffa, die Frau des Schiffseigners. Auch andere hatten von dem Wiener Wissenschaftler gehört, der einen Nachruf für, nein, gegen Dov Zedek geschrieben hatte. Einer meinte:»Was ist mit seinem Nazisohn?«
«Er ist kein Nazi«, antwortete Ethan.
«Aber du selbst sollst doch geschrieben haben, daß er ein Antisemit ist.«
«Er ist kein Antisemit.«
Darauf ein Jude aus dem Irak, ein Bekannter der Familie:»Sie sind doch alle Antisemiten, Ethan. Sie bekommen es mit der Muttermilch eingeflößt. Spätestens dann.«
Onkel Jossef sagte:»Aber Felix hat ihn doch selbst als seinen Sohn vorgestellt. «Und Jaffa meinte:»Ist es dir denn unangenehm?«Ethan konnte nicht die Wahrheit sagen. Sie hätten ihm ohnehin nicht geglaubt. In diesen wenigen Gesprächen entstand eine neue Familienlegende. Rudi, sein Halbbruder, erklärte Ethan, habe Israel leider kurz nach Vaters Tod verlassen müssen. Es sei nicht zu ändern gewesen.»Mir kommt es beinah vor«, sagte Jossef,»Felix hat bloß noch durchgehalten, um einmal mit allen seinen Nächsten und mit seinen beiden Söhnen zusammenzusein.«
Ethan antwortete:»So?«Und dann:»Ich weiß nicht, ob Rudi zum Begräbnis kommen kann. «Ethan versicherte:»Wir haben nichts dagegen. «Ethan erklärte:»Wir hoffen es.«
Auch Dina blieb bei dieser Version des Familienmärchens, ohne daß sie sich lange darüber abgesprochen hätten, und als Ethan ihr den Hörer weiterreichte, versicherte die Mutter ihrem Bruder Jossef, sie würden Rudi natürlich bitten, zur Beerdigung wieder nach Israel zu kommen. Aber zweifellos habe der Junge jetzt zu tun. Er sei schließlich wochenlang im Land gewesen, um seinen Papa kennenzulernen. Dabei habe er die Arbeit und seine Karriere vernachlässigt. In Wien würden Verpflichtungen warten.
Natürlich, pflichtete Jossef bei, das werde nicht einfach, aber dann meldete sich Jaffa bei Dina. Es gebe schließlich an jedem Tag mehrere Flüge nach Tel Aviv. Da werde doch auch Rudi Zeit finden, seinen eigenen Vater zu bestatten. Sie habe bereits mit Mosche und Udi geredet und auch mit Eli, dem Friseur, zu dem Felix all die Jahre gegangen war, und alle seien ihrer Meinung. Wenn Felix sich zu dem Buben bekannt habe, solle sich Dina, auch wenn es ihr jetzt schwerfalle, nicht dagegen stemmen. Der Junge gehöre zur Mischpoche. Er habe sich so sehr um seinen Vater bemüht. Dina sei, sagte Jaffa, doch ohnehin seine große Liebe, seine legitime Frau gewesen. Er sei immer bei ihr, bei Dina, geblieben. Nur das allein zähle, und jetzt wäre wichtig, alle Eifersucht zu überwinden und Großmut zu beweisen.
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