Entschuldige, sagte er und deutete auf den Kranken, als sei dessen elendes Daliegen schuld an seinem Versehen. Karl nahm jetzt die linke Hand des Freundes, umschloß sie mit beiden Händen. Er war im Augenblick nicht imstande, seinen Freund mit Diego anzusprechen, und Lambert durfte nicht sein. Das verstand er ja. Also verlangte er von sich das Unmögliche. Diego, sagte er und wußte, ohne hinzuschauen, daß Gundi ihm jetzt ermunternd zunickte. Noch einmal: Diego. Er spürte Gundis Zustimmung als eine Kräftigung. Aber er konnte nicht weiterreden. Wie der jetzt dalag, der Freund!
Gundi gab Karl das verabredete Zeichen. Der Besuch sollte kurz sein. Diego lag doch da, wie zu Tode erschöpft.
Karl verabschiedete sich mit einem langen Händedruck. Dazu sagte er, Diegos Gesichtsfarbe verrate ihm, daß Diego bald wieder gesund sein werde. Diegos Lippen kräuselten sich ein bißchen. Und das Frühjahr tue ein übriges, sagte Karl. Ist doch wunderbar, daß du ein Zimmer hast, in dem du die Vögel singen hörst. Tatsächlich hallten die Vogelstimmen, die von draußen hereindrangen, in dem hohen Zimmer wie in einer Kirche. Am liebsten hätte Karl gesagt, das sei wahnsinnig, diese geradezu tobenden Vogelstimmen in diesem kirchenhohen Krankenzimmer. Er spürte, daß alles, was er sagen konnte, unangebracht war. Aber er mußte so daherreden, um nicht merken zu lassen, wie ihm das weh tat, seinen Freund so daliegen zu sehen.
Gundi bat ihn, draußen auf sie zu warten, sie komme gleich.
Bis bald, lieber Diego. Krankheiten, die keinen Namen haben, halten sich nicht lang. Also, Diego, bis bald.
Er sollte mit Gundi hinausfahren in die Villa.
Gundi stieß die Sätze, die sie sagen mußte, mehr heraus, als daß sie sie sagte. Im Katastrophen-Telegrammstil. Die Mitteilung, die sie zu machen hatte, ließ nichts anderes zu. Diego will Trautmann Titan verkaufen. An Puma . Verhandelt wird seit Wochen. Und erst jetzt ist ein Ergebnis in Sicht gekommen. Diego hätte natürlich Karl jetzt zugezogen. Ohne Karls Zustimmung kein Verkauf. Dann der Zusammenbruch. Wenn sich das in der Branche herumspricht, ist die Firma nur noch halb soviel wert. Leider hat heute schon Amadeus Stengl angerufen, der tat, als wisse er Bescheid. Sie hat ihm das Weitersagen verboten. Aber genausogut kannst du den Gänsen das Schnattern verbieten. Auf jeden Fall muß jetzt schnell gehandelt werden. Diego will sechs Millionen, darunter geht nichts. Diego hat vor dem Zusammenbruch noch alles unterschriftsfertig hingekriegt. Die Konkurrenz im Racket-Business sei strangulierend. Das sagt er seit Jahren. Und betet immer die gleichen Namen her: Dunlop, Kneissl, Pro-Kennex . Und jetzt diese Gelegenheit! Artikel zu produzieren, um sie dann zu verkaufen, habe ohnehin nie zu Diego gepaßt. Er sei damals nur Karl zuliebe eingestiegen, vielleicht auch ein bißchen geblendet vom deutschen Tenniswunder. Das ist aus und vorbei. Jetzt mit sechs Millionen davonzukommen, das wär’s doch. Und ließ, was sie gerade gesagt hatte, von ihrem Porsche bestätigen.
Da Karl Gundi noch nie am Steuer erlebt hatte, staunte er. So unbeeindruckt von Geschwindigkeitsbeschränkungen und anderen Verkehrsgeboten hatte er noch nie jemanden am Steuer erlebt. Und sie lenkte immer nur mit der Linken. Karl mußte sich vorstellen, daß ihre Rechte dann mit Diego beschäftigt war. Dieses irrsinnige Fahren nur mit der Linken und diese beschäftigungslose Rechte! Wartete er darauf, daß sie sich auf sein Knie lege? Niemals! Überhaupt nicht! Daß einem so etwas einfällt, ist ärgerlich. Wenn Gundi die Sätze nicht in Fahrtrichtung hinausstieße, sondern zu dir herüber, was ja bei diesem Tempo tödlich wäre, aber einmal angenommen, auf der langen, geraden Grünwalder Straße täte sie das, spräche herüber zu dir, und dann hätte sie einen Mundgeruch, das wäre der Hammer.
Damit war er von Gundi weg. Zu sagen, etwas sei der Hammer, das war reiner Amadeus Stengl. Amadeus war zwar nur ein bißchen jünger als Karl, na ja, fünf Jahre oder vielleicht sogar sieben Jahre konnten es sein, aber er ging offenbar intensiv mit den nachfolgenden Generationen um und übernahm, wahrscheinlich ohne es zu merken, deren Wortgewohnheiten. Daß etwas der Hammer sei oder echt geil sei oder durchgeknallt sei oder der Wahnsinn sei, dergleichen blühte dem andauernd aus dem ohnehin immer noch fast kindlich formlosen Mund. Das Älterwerden hat diesen Mund, der offenbar nie eine bleibenkönnende Fassung gefunden hat, vollends entgleiten lassen. Ein Lippendurcheinander von Mund. Er merkte, daß er abwertend über Amadeus Stengl dachte. Das wollte er aber nicht. Wer bin ich, daß ich abwertend über Amadeus Stengl denke! Daß ein Mund sich weigert, eine Fassung zu finden, kann ein Zeichen von Lebendigkeit sein.
Hauptsache, er war von Gundi weggekommen.
Aber da sagte sie schon: Denk nicht so weit weg! Als er den Erstaunten spielte, ergänzte sie: Von mir! Das mir zweisilbig. Ihre beschäftigungslose Rechte ließ sie dabei auf sich selber zeigen, zentral.
Er hätte jetzt sagen können, daß er selber nicht mit dem, was ihm durch den Kopf gehe, einverstanden sei. Er hätte sagen sollen, daß er oft das denken müsse, was er am wenigsten denken wolle. Aber, hätte er noch dazusagen müssen, das Schlimmste sei, daß er nichts dagegen habe, das denken zu müssen, was er am wenigsten denken wolle. Da das alles unsagbar war, schaute er auf Gundis beschäftigungslose Rechte hin, produzierte, obwohl Gundi das ja nicht wahrnehmen konnte, einen Gesichtsausdruck reiner Bewunderung, um dann sagen zu können: Aus deinen Interviews weiß ich, daß du in Berlin das Geld für das Studium als Taxifahrerin verdient hast.
Hab ich, sagte sie. Bevor ich bei Max Staub Assistentin war. Der blieb aber nur ein Jahr in Berlin. Daß ich nicht mit ihm nach New York gegangen bin, sagt Diego, das sei, weil er und ich dann nicht zusammengefunden hätten, eine Entscheidung von prophetischer Genialität gewesen. Max war ja total lieb, aber er wollte mich heiraten.
Karl sagte, als erkläre das alles: Ethnologie.
Ethno-Psychoanalyse, sagte sie.
Karl dachte an die Szene im Schlößchen. Im Sängersaal . Gundi litt wieder einmal darunter, daß sie die Wissenschaft verlassen hatte. Sie hätte die Ethno-Psychoanalyse, diese gerade entstehende Wissenschaft, nicht verlassen dürfen, sagte sie. Sie wirkte wie ein Soldat, der von einer achtenswerten Armee desertiert ist. Mitten im Satz hatte sie zu sprechen aufgehört, saß da mit geschlossenen Augen und sog an ihrer bulgarischen Zigarette, als könne sie sich so aus der Welt hinaussaugen. Sie rauchte, solange sie noch rauchte, nur bulgarische Zigaretten. Wenn man sie fragte, warum, rief sie: Muß man denn immer wissen, warum man etwas tut! Nach diesem unendlich tiefen Zug aus der bulgarischen Zigarette ließ sie die Augen aufgehen wie ein Gestirn und sagte vollkommen sanft, sie habe mit ihrem Bedauern, die Ethno-Psychoanalyse verlassen zu haben, nichts gegen das Fernsehen sagen wollen.
Das war ihre Natur, das war sie selber ganz und gar, diese nichts übersehende Ausgeglichenheit. Zu ahnen war, welche Kräfte in ihr gegeneinander kämpften. Auf dem Bildschirm demonstriert sie, wie sehr man mit sich im reinen sein kann, aber das Pathos, das ihr unwillkürlich eigen ist, verrät, daß sie nichts geschenkt bekommen hat. Und eben das macht ihr grenzenloses Einverstandensein mit sich selbst schön. Dazu gehört, daß das immer nur für diesen Augenblick gilt. Gerade jetzt schwimmen die schwarzen Augen im weißen Gesicht wie ruhige Feuer. Der Mund, eine Fülle der Gelassenheit. Bis auf die dann doch noch jäh abfallenden Mundwinkel. In jedem Interview sagt sie: Was sie bei Max Staub gelernt habe, könne nirgends so fruchtbar werden wie im Fernsehen. Als müsse sie sich selbst immer wieder beweisen, wie richtig es gewesen sei, die Ethno-Psychoanalyse zugunsten des Fernsehens im Stich zu lassen. Wie richtig das war, bestätigen ihr die Zuschauer seit mehr als zehn Jahren, eben seit es Zu Gast bei Gundi gibt.
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