Eine Minute später
AW:
Fünfundzwanzig.
Eine Minute später
RE:
Vierundzwanzig.
40 Sekunden später
AW:
Und du kommst diesmal wirklich!
50 Sekunden später
RE:
Aber sicherlich. Und du?
Zwei Minuten später
AW:
Ja, natürlich. Ich werde uns doch nicht um unseren »würdevollen Abschluss« bringen.
20 Minuten später
RE:
War das vorhin deine letzte E-Mail?
20 Sekunden später
AW:
Nein. Und das hier deine?
30 Sekunden später
RE:
Auch nicht. Bist du aufgeregt?
20 Sekunden später
AW:
Ja. Du?
25 Sekunden später
RE:
Ja, sehr.
30 Sekunden später
AW:
Musst du aber nicht sein. Ich bin ein ziemlich durchschnittlicher, wenig zur Aufregung Anlass gebender Mensch, wenn man mich das erste Mal sieht.
20 Sekunden später
RE:
Leo, für Schadensbegrenzung ist es zu spät! War das vorhin deine letzte E-Mail?
30 Sekunden später
AW:
Meine vorletzte, liebe Emmi.
40 Sekunden später
RE:
Das hier ist meine letzte! Bis dann, lieber Leo. Willkommen im Neuland der Begegnung.
Am Abend des gleichen Tages
Kein Betreff
Danke, Emmi. Leo.
Am Morgen des nächsten Tages
Kein Betreff
Nichts zu danken, Leo. Emmi.
Zwölf Stunden später
Betreff: War es… …so schlimm?
Zwei Stunden später
RE:
Warum fragst du, Leo? Du weißt, wie es war. Du warst dabei. Du bist deiner »Illusion des Vollkommenen« 67 Minuten leibhaftig gegenübergesessen und hast sie mindestens 54 Minuten davon angelächelt. Ich fange erst gar nicht an aufzuzählen, was du in dieses Lächeln alles hineingepackt hast, so umfangreich war das Programm. Eine anständige Portion Verlegenheit war jedenfalls auch dabei. Aber nein, es war nicht schlimm. Schlimm war es überhaupt nicht. Ich hoffe, deinem Hals geht es besser. Wie gesagt: Isla-Mint-Pastillen, am besten die mit Johannesbeergeschmack. Und vor dem Schlafengehen mit Salbeitee gurgeln! Schönen Abend noch, Emmi.
Zehn Minuten später
AW:
«Schlimm war es überhaupt nicht. «Was war es dann, liebe Emmi? Was war es überhaupt?
Fünf Minuten später
RE:
Hey Leo, seit wann stellst du die spannenden Fragen? Bist du nicht derjenige von uns beiden, der für die spannenden Antworten zuständig ist? Also: Wenn es nicht schlimm war, was war es wohl dann, lieber Leo? Lass dir ruhig Zeit. Gute Nacht. Emmi.
Drei Minuten später
AW:
Wie können zwei identische Emmis in so unterschiedlichem Tonfall schreiben und reden?
50 Sekunden später
RE:
Hartes Training, Herr Sprachpsychologe! Und jetzt schlafe gut, träume schön und atme frei.
Übrigens: »Danke, Emmi«, war schwach, lieber Leo. Sehr schwach. Weit unter deinen Möglichkeiten.
Am Abend des nächsten Tages
Betreff: Der Fremde
Liebe Emmi, seit einer Stunde lösche ich E-Mail-Fragmente, in denen ich versuche zu beschreiben, wie es mir bei unserem Treffen mit dir ergangen ist. Ich schaffe es nicht, meine Eindrücke zu bündeln. Was immer ich über dich sage, klingt banal, phrasenhaft, »weit unter meinen Möglichkeiten«. Jetzt probiere ich es andersrum. Ich erzähle dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Darf ich mich ausnahmsweise deiner griffigen Punktetabelle bedienen? Also:
1) Dich hat gestört, dass ich vor dir dort war.
2) Dich hat gewundert, dass ich dich sofort erkannt habe, weil du ja wusstest, dass ich nicht mit »dieser« Emmi gerechnet hatte.
3) Dich hat befremdet, dass ich dich auf die Wange geküsst habe, als wäre das ein über Jahre einstudiertes Zeremoniell zwischen uns. (Die zweite Wange hast du mir verwehrt, ich hab's verstanden.)
4) Du hattest von der ersten Sekunde an das Gefühl, einem Fremden gegenüberzusitzen, der behauptete, Leo Leike zu sein, der aber jeden Beweis schuldig blieb, dass er es war.
5) Dieser Fremde war dir keineswegs unsympathisch. Er sah dir in die Augen. Er brachte den Mund auf und schloss ihn rechtzeitig. Er erzählte keine ausufernden Geschichten. Er geriet nicht in Panik, wenn längere Sprechpausen entstanden. Er hatte weder Mundgeruch noch zuckten seine Augenbrauen. Er war ein kurzweiliger, unpeinlicher, wenn auch heiserer Gesprächspartner. Du musstest aber dennoch immer wieder die schöne smaragdgrüne Armbanduhr, die sich ein wahrlich graziles Handgelenk ausgesucht hatte, befragen, wie lange du noch gezwungen sein würdest, Nähe vorzutäuschen beziehungsweise vorgetäuscht zu bekommen, die es im öffentlich zugänglichen Raum nicht einmal in feinsten Nuancen gab. Nichts an mir kam dir bekannt vor. Nichts an mir war dir vertraut. Nichts an mir hat dich berührt. Nichts an mir hat dich an Schreiber Leo erinnert. Nichts aus der Mailbox hatte sich auf den Kaffeehaustisch übertragen lassen. Keine deiner Erwartungen hatte sich erfüllt, liebe Emmi. Und deshalb bist du, was das Kapitel Leo Leike betrifft, einigermaßen, nein, »enttäuscht« wäre zu hoch gegriffen. Ernüchtert. Ernüchtert trifft es eher: »Das ist er also wirklich, der Leo Leike. Aha. Na ja.« So wirst du jetzt wohl denken. Stimmt's?
Eine Stunde später
RE:
Ja, danke für das Kompliment, lieber Leo. Die grüne Uhr ist wirklich schön, ich trage sie schon seit vielen Jahren. Ich habe sie bei einem serbischen Antiquitätenhändler in Leipzig erstanden. »Geht gut, du gucken Tag, du gucken Nacht, immer so richtig Zeit«, hat er versprochen. Und tatsächlich: Wann immer ich auf die Uhr schaute, dann war es so richtig Zeit. So, und es ist wieder einmal so richtig Zeit. Alles Liebe. Emmi.
Zehn Minuten später
AW:
Liebe Emmi, ich finde deine Ausweichmanöver ja wirklich sehr elegant, geradezu kokett. Aber meinst du nicht, dass es fair wäre, mir zu sagen, warum du sauer bist? Ich würde mir in der Nacht dann etwas leichter tun, mit dem Schlaf, wenn du verstehst.
20 Minuten später
RE:
Okay, Leo, eigentlich hätte mich ja mehr interessiert, wie DU über mich denkst und was DU gefühlt hast oder hättest (vorausgesetzt, du hättest gefühlt). Meine eigenen Regungen und Empfindungen kenne ich selbst nach dem Treffen doch noch immer um eine Spur besser als du. Glaub es mir. Aber lieb, dass du dir die Mühe gemacht hast. Gute Nacht.
Am nächsten Abend
Betreff: Der Nichtvorhandene
Lieber Leo, ich sehe schon, du verkrampfst dich derzeit ein bisschen beim Schreiben. Vielleicht hast du dich mit deiner Lockerheit am Kaffeehaustisch übernommen. Aber ich will kein Spielverderber sein: Ich verrate dir, wie es DIR bei unserem Treffen mit mir ergangen ist. Also:
1) Du warst so blendend darauf vorbereitet, jeder Emmi, die da kommen mochte, der perfekte, gewandte, galante, souveräne und doch so bescheiden auftretende würdevolle E-Mail- Beziehungsabschließer Leo Leike zu sein, dass es beinahe schon egal war, welche Emmi dann tatsächlich kam.
2) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie verblüfft du warst, wie anders ich aussah, als du gedacht hattest.
3) Gratuliere, Leo, du hast es dir kaum anmerken lassen, wie sehr es dich wunderte, wie mittelgroß, brünett, schüchtern und scheu ich auf einmal sein konnte. (Die Melancholie hatte ich sicherheitshalber an der Garderobe abgegeben, und das war auch gut so.)
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