Kein Betreff
Kriege ich heute keine Antwort mehr, Emmi? Wenn nein, gute Nacht! (Wenn ja, gute Nacht!)
Eine Minute später
RE:
Leo, hast du noch ein Gefühl, wenn du mir schreibst? Ich hab nämlich so das Gefühl, dass du keines mehr hast. Und dieses Gefühl fühlt sich gar nicht gut an.
Zwei Minuten später
AW:
Emmi, ich habe riesige Schränke und Truhen voll Gefühle für dich in mir. Aber ich habe auch den passenden Schlüssel dafür.
40 Sekunden später
RE:
Kommt der Schlüssel zufällig aus Boston und heißt »Pamela«?
50 Sekunden später
AW:
Nein, der Schlüssel ist international und heißt »Vernunft«.
30 Sekunden später
RE:
Der sperrt bei dir aber nur in eine Richtung. Der sperrt nur zu. Und drinnen in den Schränken ersticken dir die Gefühle.
40 Sekunden später
AW:
Meine Vernunft achtet darauf, dass meine Gefühle immer genug Luft kriegen.
30 Sekunden später
RE:
Aber nach draußen dürfen sie nicht. Frei sind sie niemals. Leo, ich sage dir, du hast einen eingeschränkten Gefühlshaushalt. Daran solltest du arbeiten. So, ich werde mich für heute verabschieden (rät mir meine Vernunft) und werde die Worte, die du über unser bevorstehendes Treffen verloren oder nicht verloren hast, auf mich wirken lassen. Gute Nacht!
20 Sekunden später
AW:
Schlaf gut, Emmi!
Am nächsten Tag
Betreff: Zielgerade
Hallo Leo, bringen wir's hinter uns: Ich kann am Samstag um 14 Uhr. Soll ich dir sagen, wie ich aussehe, damit du mich nicht lange suchen musst? Oder willst du von mir gefunden werden, sitzt irgendwo gelangweilt in der Masse, blätterst in einer Zeitung und wartest darauf, dass ich dich anspreche? Im Tonfall а la: »Entschuldigung, ist der Sessel noch frei? Äh, sind Sie zufällig Herr Leike mit dem verschlossenen Gefühlsschrank? Ich wäre dann also Emmi Rothner, freut mich, doch noch Ihre Bekanntschaft zu machen beziehungsweise gemacht zu haben. Und…«- zur Zeitung schielend — , »… was gibt es sonst noch Neues in der Welt?«
Zwei Stunden später
Betreff: Sorry
Leo, verzeih mir bitte meine vorige E-Mail! Sie war so, so, so… Jedenfalls war sie nicht besonders nett. Dafür hätte ich eigentlich den Systemmanager verdient.
Zehn Minuten später
AW:
Welchen Systemmanager?
50 Sekunden später
RE:
Ach, vergiss es. Das ist ein Running Gag zwischen mir und mir. Ist Samstag, 14 Uhr, für dich okay?
Eine Minute später
AW:
Samstag, 14 Uhr, ist gut. Hab einen angenehmen Mittwoch, liebe Emmi!
40 Sekunden später
RE:
Was so viel bedeutet wie: »Rechne an diesem Mittwoch mit keiner E-Mail mehr von Leo, liebe Emmi.«
Sieben Stunden später
Kein Betreff
Du stehst wenigstens dazu!
Drei Stunden später
Betreff: Nur so
Leo, brennt noch Licht bei dir? (Du musst nicht antworten. Ich hab es mich nur gefragt. Und wenn ich es mich frage, dann kann ich es eigentlich auch gleich dich fragen, oder?)
Drei Minuten später
AW:
Bevor du dir eine falsche Antwort gibst, Emmi: Ja, es brennt noch Licht. Gute Nacht!
Eine Minute später
RE:
Was machst du? Gute Nacht.
50 Sekunden später
AW:
Ich schreibe. Gute Nacht.
40 Sekunden später
RE:
Wem schreibst du? Pamela? Gute Nacht.
30 Sekunden später
AW:
Ich schreibe dir! Gute Nacht.
40 Sekunden später
RE:
Du schreibst mir? Was schreibst du mir? Gute Nacht.
20 Sekunden später
AW:
Gute Nacht.
20 Sekunden später
RE:
Ah so, klar. Gute Nacht.
Am nächsten Tag
Betreff: Noch zwei Tage
Lieber Leo, das ist die letzte E-Mail, die ich dir schicke, bevor du mir (zuerst) eine geschickt hast. Ich schicke sie dir nur, um dir das ausgerichtet zu haben. Solltest du nicht mehr antworten, sehen wir uns übermorgen um 14 Uhr im Messecafé. Ich werde sicher nicht mit dem Leo suchenden Irr-Blick durch das Kaffeehaus (abschieds-)lustwandeln. Ich werde an einem kleinen Tisch abseits vom Getümmel sitzen und warten, bis der Mann, der mit mir zwei Jahre schriftlich Gefühle auf- und abgebaut hat, ehe er nach Boston aufbrach und seinen eigens angefertigten Emmi-Gefühlsschrank versperrte, bis dieser Mann zu mir gefunden und Platz genommen hat, damit wir das Kopfabenteuer endlich würdevoll hinter uns bringen können. Ich ersuche dich deshalb, bemüht zu sein, mich zu erkennen. Du hast bekanntlich drei Varianten zur Auswahl. Solltest du dich nicht mehr erinnern, wie mich deine Schwester beschrieben hat, gebe ich dir gerne ein paar Stichworte. (Zuuuuuuufällig besitze ich noch deine EMail von damals.) Emmi eins: klein, kurze dunkle Haare (könnten in eineinhalb Jahren allerdings gewachsen sein), burschikos, »mit würdevoller Arroganz überspielte leichte Unsicherheit«, erhabener Kopf, feine Gesichtszüge, schnelle Motorik, speedig, temperamentvoll. Emmi zwei: groß, blond, vollbusig, weiblich, langsam in den Bewegungen. Emmi drei: mittelgroß, brünett, schüchtern, scheu, melancholisch. So, ich glaube, du solltest mich finden. Schreib mir zurück oder verbring jedenfalls noch zwei entspannte Tage, mein Lieber. Und pass auf deinen Schlüssel auf! Emmi.
Zehn Minuten später
AW:
Liebe Emmi, du hast es mir leicht gemacht, dich zu erkennen, vermutlich leichter, als du wolltest. Du hast mir endgültig verraten, dass du Emmi eins bist, was ich immer schon vermutet hatte. Willst du wissen, wodurch?
Eine Minute später
RE:
Natürlich! Ich liebe den aufgeregten Hobby-Psychologen in dir, Leo! Damit kann man dich vom Kreislaufstillstand ins Leben zurückholen und dich sogar im absolut gefühlsverschränkten Zustand zu E-Mails nötigen.
15 Minuten später
AW:
Liebe Emmi eins, zuuuuuuufällig besitze auch ich noch unsere E-Mails von damals, als wir uns ferndiagnostizierten: Bei »Emmi zwei« hast du die von meiner Schwester zugewiesenen Attribute »sehr souverän«, »selbstsicher, cool«, »beobachtet Männer perfekt beiläufig« und Merkmale wie »schlanke lange Beine« und »schönes Gesicht« unter den Tisch fallen lassen. Dir war nur noch wichtig, auf ihre langsamen Bewegungen und auf ihren großen Busen (mit einem solchen du ja schon immer auf Kriegsfuß gestanden hast, seit wir uns kennen) hinzuweisen. Man merkt also, dass du sie nicht sonderlich magst. Also bist du nicht sie. Ähnlich bei »Emmi drei«. Sie interessiert dich nicht. Du streichst ausgerechnet ihre Schüchternheit heraus, ein Wesenszug, der dir selbst vollkommen fremd sein dürfte. Und du verschweigst ihren »exotischen Teint«, ihre »mandelförmigen Augen«, ihren »verschleierten Blick«, all das, was an ihr interessant klingen könnte. Einzig bei »Emmi eins« bist du großzügig in deinen Betrachtungen, liebe Emmi eins. Dir ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass ihre kurzen dunklen Haare gewachsen sein könnten, du zitierst ihre »mit würdevoller Arroganz überspielte leichte Unsicherheit«, ihren »erhabenen Kopf« und ihr Temperament. Dabei nennst du den Begriff »speedig«, aber »hektisch« und »nervös« lässt du aus. Diese Eigenschaften magst du eben nicht so gern an dir. Also, liebe Emmi eins, ich freue mich, dich am Samstagnachmittag dunklen Haares, erhabenen Hauptes und speediger Laune am Kaffeehaustisch anzutreffen. Bis bald, Leo.
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