PPS: Danke, dass du mir noch einmal zugehört hast. Jetzt kannst du mir wieder deinen netten Systemmanager schicken. Mit dem kann man wenigstens ungestört über das Wetter plaudern.
Eine Stunde später
AW:
Ich hätte nicht zurückschreiben dürfen, liebe Emmi. Jetzt habe ich dich (schon wieder) verletzt, das wollte ich nicht. DU BIST MIR NIEMALS LÄSTIG. Das weißt du. Ich müsste mir sonst selbst lästig sein, denn du bist ein Teil von mir. Ich trage dich immer mit mir herum, quer durch alle Kontinente und Gefühlslandschaften, als Wunschvorstellung, als Illusion des Vollkommenen, als höchsten Liebesbegriff. So warst du mit mir fast zehn Monate in Boston, so bist du mit mir wieder heimgekehrt.
Aber, Emmi, mein physisch lebbares Leben ist inzwischen weitergegangen, es musste weitergehen. Ich bin dabei, mir etwas aufzubauen. Ich habe in Boston jemanden kennengelernt. Es ist noch zu früh, um, du weißt schon wovon, zu sprechen. Aber wir wollen es miteinander probieren. Sie hat einen Job hier in Aussicht, sie wird vielleicht herziehen.
In dieser Horrornacht, als unser »erstes und letztes Treffen« so kläglich am Nichtzustandekommen gescheitert ist, da habe ich unsere virtuelle Beziehung auf brutale Weise abgebrochen. Du hattest, auch wenn du es bis zuletzt nicht wahrhaben wolltest, eine Entscheidung getroffen, und ich habe dir geholfen, sie zu vollziehen. Ich weiß nicht, wie du heute dastehst mit Bernhard, mit deiner Familie. Ich will es auch gar nicht wissen, denn es hat nichts mit uns beiden zu tun. Für mich war die lange Schweigepause notwendig. (Wahrscheinlich hätte ich sie nie mehr beenden dürfen.) Sie war notwendig, um unser einzigartiges Erlebnis zu konservieren, um unsere innige, vertraute, intime Nicht-Begegnung auf Lebenszeit haltbar zu machen. Wir hatten es auf die Spitze getrieben. Weiter ging es nicht. Eine Fortsetzung gibt es nicht, auch nicht, ja erst recht nicht ein Dreivierteljahr später. Bitte sieh es auch so, Emmi! Halten wir hoch, was war. Und belassen wir es dabei, sonst zerstören wir es. Dein Leo.
Zehn Minuten später
RE:
Leo, das war ein Glanzstück, ein Leckerbissen, du läufst binnen kurzer Zeit zu Hochform auf! — »Emmi, du bist zwar die Illusion des Vollkommenen, aber ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.« Verstehe. Verstehe. Verstehe. Morgen mehr. Tut mir leid, das kann ich dir nicht ersparen. Gute Nacht, deine I.d.V.
Am nächsten Tag
Betreff: Würdiger Abschluss
Okay, ich halte hoch, was war. Ich belasse es dabei. Ich zerstöre nichts. Ich respektiere deine Haltung, lieber Ex-E-Brieffreund Leo »Weiter ging es nicht« Leike. Ich gebe mich damit zufrieden, dass du mich und »unsere Sache« schön in Erinnerung behalten willst. Für eine »Illusion des Vollkommenen« fühle ich mich selbst zwar ziemlich unvollkommen und reichlich desillusioniert, aber immerhin bin ich dein »höchster Liebesbegriff«, wenn auch offenbar von einem anderen Stern. Denn mit Cindy aus Boston — sie heißt sicher Cindy, ich habe sie vor mir, wie sie dir »I'm Cindy«, kicher, »but you can call me Cinderella«, kicher, kicher, ins Ohr flüstert — , also mit Cindy lassen sich vielleicht nicht die höchsten denkmöglichen, dafür aber irdische Begriffe von Liebe finden. Sie lassen sich finden und sie lassen sich vor allem leben. Mich trägst du — zur natürlichen Ausgewogenheit von Körper und Geist — als »Wunschvorstellung« mit dir herum, und da habe ich natürlich volles Verständnis, dass du darauf achten musst, dass ich dir nicht zu schwer werde, damit du dir keinen Wunschvorstellungsbruch hebst.
Okay, Leo, ich mache es »uns« leicht, ich mache es dir leicht, ich mache mich leicht, ich höre auf, ich ziehe mich aus deinem Leben zurück. Ich schreibe dir (bald!) keine E-Mails mehr. Ich verspreche es dir.
Darf deine »Wunschvorstellung« nur noch einen einzigen Wunsch äußern, einen allerallerallerletzten? — NUR EINE STUNDE, eine Stunde von Angesicht zu Angesicht. Glaube mir, ein besseres Konservierungsmittel für unser gemeinsam Erlebtes gibt es nicht. Denn das einzig vernünftige Ende einer innigen Nicht-Begegnung ist die Begegnung. Ich verlange nichts von dir, ich erwarte nichts von dir. Ich muss dich nur einmal in meinem Leben gesehen, gesprochen, gerochen haben. Ich muss einmal deine Lippen dabei beobachtet haben, wie sie sich zu »Emmi« formen. Ich muss einmal deine Wimpern betrachtet haben, wie sie sich vor mir verbeugen, bevor der Vorhang runtergeht.
Lieber Leo, du hast Recht, es gibt keine sinnvolle Fortsetzung für uns. Aber es gibt einen würdigen Abschluss. Ich bitte dich darum, nur noch darum! Deine Illusion des Vollkommenen.
Drei Stunden später
AW:
Pamela.
Eine Minute später
RE:
???
30 Sekunden später
AW:
Sie heißt nicht Cindy, sondern Pamela. Ja, ich weiß, das klingt ziemlich schlimm. Es ist immer gefährlich, wenn sich die Väter bei der Wahl der Vornamen der Töchter durchsetzen. Aber sie sieht ganz anders aus, ehrlich. Gute Nacht, Emmi. Leo.
40 Sekunden später
RE:
Lieber Leo, dafür mag ich dich so sehr! Bitte verzeih mir meine Untergriffe. Ich fühle mich so schwach, so, so, so schwach. Gute Nacht. Emmi.
Am nächsten Tag
Betreff: Also gut
Wir treffen uns. Leo.
Drei Minuten später
RE:
Ein Mann, drei Worte! Ausgezeichnete Idee, Leo. Wo?
Eine Stunde später
AW:
In einem Kaffeehaus.
Eine Minute später
RE:
Mit zehn Fluchtwegen und fünf Notausgängen.
Fünf Minuten später
AW:
Ich schlage vor: im Großen Messecafé Huber. So nah wie dort waren wir uns nie und nirgendwo. (Ich meine: räumlich.)
40 Sekunden später
RE:
Schickst du wieder deine schöne Schwester zur EmmiSondierung vor?
50 Sekunden später
AW:
Nein, diesmal gehe ich alleine, offen und direkt auf dich zu.
Drei Minuten später
RE:
Leo, deine an sich wesensfremde Entschlossenheit irritiert mich. Warum so plötzlich? Warum willst du mich treffen?
40 Sekunden später
AW:
Weil du es willst.
30 Sekunden später
RE:
Und weil du es hinter dir haben willst.
Zwei Minuten später
AW:
Weil ich will, dass du hinter dir hast zu glauben, dass ich es hinter mir haben will.
30 Sekunden später
RE:
Leo, weiche nicht aus. Du willst es hinter dir haben!
Eine Minute später
AW:
Wir wollen es beide hinter uns haben. Wir wollen es gut hinter uns bringen. Es geht um einen »würdigen Abschluss«. Deine Worte, liebe Emmi.
50 Sekunden später
RE:
Aber ich will nicht, dass du mich triffst, nur um es hinter dir zu haben. Ich bin nicht deine Zahnärztin!
Eineinhalb Minuten später
AW:
Obwohl du oft punktgenau den Nerv triffst. EMMI, BITTE!! Wir ziehen das jetzt durch. Es war dein ausdrücklicher Wunsch, und es war ein berechtigter Wunsch. Du hast uns versprochen, dass wir unser »Uns« damit nicht zerstören. Ich vertraue auf dich und dein »Uns« und mein »Uns« und unser gemeinsames »Uns«. Wir treffen uns von Angesicht zu Angesicht, für eine Stunde bei einem Kaffee! Wann hast du Zeit? Samstag? Sonntag? Mittag? Nachmittag?
Drei Stunden später
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