Einen Tag später
Betreff: Berührungspunkt
Liebe Emmi, schön, dich in derart bestechender Form zu erleben. Die kroatische Meeres- und Gruft-Luft tut deiner feinfühligen Ader offenbar besonders gut.
1) Warum ich Pam, also Pamela, von dir erzählt habe? — Ich musste es. Es gab einen Punkt, an dem ich nicht anders konnte. Es war DEIN Punkt, Emmi! Von mir einmal so beschrieben und bestimmt: »Auf der Innenseite meiner linken Hand, etwa in der Mitte, wo die Lebenslinie von dicken Faltenbögen durchkreuzt Richtung Pulsader abbiegt.« Das ist die Stelle, an der du mich bei unserem zweiten Treffen unabsichtlich berührt hast. Sie blieb mein ultimativer Emmi-Empfindungspunkt, prolongiert für alle Ewigkeit.
Monate später, bei unserem berühmten Fünf-Minuten-Treffen am Abend vor Pamelas Ankunft, hast du mir dann dein »Erinnerungsstück«, dein »Geschenk« hinterlassen. Warst du dir der Tragweite dieser Geste bewusst? Ahntest du, was du damit anrichten würdest? »Psst!«, hast du geflüstert. »Nichts dazu sagen, Leo! Gar nichts sagen!« Du hast meine linke Hand genommen, hast sie zu deinem Mund geführt und hast unseren Berührungspunkt geküsst. Mit dem Daumen hast du noch einmal sanft darübergerieben. Deine Abschiedsworte: »Tschüss, Leo. Mach's gut. Vergiss mich nicht!« Und die Tür war zu. Hunderte Male habe ich diese Szene nachgespielt, tausendmal deinen Kuss auf den Punkt nachempfunden. Da es nicht gerade zu meinen Stärken zählt, sexuelle Erregungszustände zu beschreiben, lasse ich jetzt besser dahingestellt, wie es mir dabei ergangen ist.
Jedenfalls war es mir nicht mehr möglich, mit Pamela intim zu sein, ohne deinen Punkt zu spüren und ohne dabei an dich zu denken und dich zu fühlen, Emmi. Damit war meine groß hinausposaunte Betrugstheorie über den Haufen geworfen. Erinnerst du dich an die Worte, die ich dir schrieb? — »Meine Gefühle zu dir nehmen jenen zu ihr nichts weg. Sie haben nichts miteinander zu tun. Sie treten nicht in Konkurrenz zueinander.« Unsinn! Unhaltbar! Von der Wirklichkeit überholt. Von einem einzigen Pünktchen widerlegt. Lange Zeit wollte ich nicht wahrhaben, dass sich meine linke Hand mehr und mehr Pamelas Körper entzog, wollte nicht sehen, welche Abwehrhaltung sie einnahm, wie sehr sie darauf bedacht war, ihr Geheimnis zu schützen, in der Faust zu verbergen.
Pamela muss es schließlich bemerkt haben. An jenem Abend griff sie energisch nach meiner abweisenden linken Hand, bemühte sich mit allen Mitteln, meine Faust zu öffnen, machte daraus ein Spiel, lachte angestrengt, erhöhte den Druck, kniete auf meinem Unterarm. Erst hielt ich mit Kraft dagegen. Aber schließlich erkannte ich meine Ohnmacht, unser großes Ganzes auf Dauer unter fünf Fingern verstecken zu können. Ich befreite meine Hand ruckartig aus ihrer Umklammerung, öffnete die Faust, hielt ihr die Hand vors Gesicht und sagte gereizt — ich fühlte mich elend, ausgeliefert, gedemütigt, verärgert, überführt: »Da, da hast du! Bist du jetzt zufrieden?« Sie war bestürzt, fragte, was mit mir plötzlich los sei, ob sie denn irgendetwas Falsches gesagt oder gemacht hätte. Ich beließ es dabei, mich zu entschuldigen. Pamela hatte keine Ahnung, wofür. Danach konnte ich nicht mehr anders: Ich erzählte ihr von dir.
Eigentlich wollte ich zunächst nur deinen Namen aussprechen und spüren, wie es mir dabei erging. Ich habe die kleine Sage von der Unbeugsamkeit der siebenten Welle zum Anlass genommen zu erwähnen, dass sie mir erst kürzlich wieder zugetragen wurde — »von Emmi, einer guten Bekannten«. Pamela war sofort hellhörig und fragte: »Emmi? Wer ist das? Woher kennst du sie?« Da hat sich eine Schleuse geöffnet, und es ist eine gute Stunde in einem Schwall aus mir herausgesprudelt, bis alles über uns verraten war. Das war tatsächlich, wie zum Exempel, eine dieser aufsteigenden, aufschäumenden, umstürzenden siebenten Wellen, wie du sie beschrieben hast. Eine Welle, die ausbrach, um zu verändern, um die Landschaft neu zu formen, sodass nachher nichts wie vorher war.
Angenehmen Badevormittag! Leo.
Drei Stunden später
Betreff: Abschied
2) Was danach war? Nicht mehr viel. Ebbe. Flaute. Schweigen. Betretenheit. Kopfschütteln. Misstrauen. Kälte. Zittern. Schüttelfrost. Ihre erste Frage: »Warum sagst du mir das alles?« Ich: »Ich dachte, du solltest es endlich wissen.« Sie: »Warum?« Ich: »Weil es zu meinem Leben gehört hat.« Sie: »Es?« Ich: »Emmi.« Sie: »Hat?« Ich schwieg. Sie: »Ist es für dich abgeschlossen? «Ich: »Wir sind Freunde geworden, wir schicken uns E-Mails, gelegentlich. Sie ist wieder glücklich liiert mit ihrem Mann.« Sie: »Und wenn sie das nicht wäre?« Ich: »Sie ist es.« Sie: »Liebst du sie noch? «Ich: »Pamela, ich liebe dich! Ich ziehe mit dir nach Boston. Ist das nicht Beweis genug? «Sie lächelte und strich flüchtig mit der Hand über meinen Hinterkopf. Ich konnte mir zusammenreimen, was in ihr vorging. Danach stand sie auf und ging zur Tür. Noch einmal drehte sie sich um und sagte: »Eine letzte Frage: Gibt es mich nur wegen ihr?« Ich zögerte, ich dachte nach, ich sagte: »Pamela, nichts ist ohne Vorgeschichte. Nichts ist nur aus sich selbst.« Da verließ sie das Zimmer. Damit war das Thema für sie erledigt. Ich unternahm mehrere Anläufe, mit ihr darüber zu reden. Ich sehnte eine Aussprache herbei, hätte auch ein schweres Hagelgewitter mit Flurschäden in Kauf genommen, damit endlich wieder ein klarer Morgen anbrechen konnte. Vergeblich. Pamela blockte jedes Gespräch ab. Es gab keinen Streit, keinen Vorwurf, kein böses Wort, auch keine bösen Blicke. Nein, es gab gar keine Blicke mehr, nur noch Streifschüsse. Ihre Stimme kam wie vom Tonband. Ihre Berührungen schmerzten, je weicher sie wurden. So taten wir weiter, als wäre nichts geschehen. So quälten wir uns durch mehrere Wochen, miteinander, nebeneinander, gemeinsam, synchron. Bis ich endlich begriff: Ich hatte Pamela nicht nur deine und meine Vorgeschichte erzählt. Ich hatte ihr gleichzeitig auch ihre und meine Geschichte erzählt. Und die hatte ich zu Ende erzählt. Da blieb uns nur noch der Abschied.
Am nächsten Morgen
Betreff: So, so, so traurig!
Hallo Leo, ich würde uns beide jetzt gerne mit irgendeiner kecken Blödsinnigkeit vom Inhalt deiner E-Mail ablenken. Aber diesmal schaffe ich es nicht. Ich hasse Geschichten, die schlecht ausgehen, überhaupt in der Früh. Du hast mich zum Heulen gebracht, und ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Der Typ neben mir, den die Nacht hier vergessen hat, der mit der Zahnspange über der Augenbraue, hat aus Solidarität sogar seine Zigarette auf halber Strecke ausgedämpft. Leo, ich finde das alles so, so, so schrecklich traurig, was du mir da schreibst und wie du es schreibst! Du tust mir so, so, so unheimlich leid! Ich würde dich jetzt so, so, so gerne umarmen und gar nie mehr loslassen. Du bist so, so, so ein Süßer! Und doch so, so, so unglaublich untalentiert in Liebesangelegenheiten. Du machst immer alles zur falschen Zeit, und wäre es an der Zeit, etwas zu machen, dann machst du es garantiert nicht oder nicht richtig. »Pam« und du — das konnte nichts werden. Ich wusste es, als ich sie sah. Gemeinsam Golf spielen, ja, okay, Bostoner Verwandte besuchen, zu Weihnachten Truthahn essen, eventuell ab und zu Sex (wenn es unbedingt sein muss), das verstehe ich schon. Aber doch nicht zusammenleben!
So, und jetzt muss ich mich rasch beruhigen. Draußen wartet Fiona. Sie will mit mir in die Shoppingmeile unseres ansässigen Fischerdorfes vordringen. — Das nächste tragische Kapitel bahnt sich an. Bis bald, mein Lieber. Emmi.
Zwei Tage später
Betreff: Drittens
3) Und wie geht jetzt alles weiter? — Keine Ahnung, liebe Emmi. Ich bin erst bei der Stichwortsammlung für mein folgendes Halbjahresprogramm. Wenn du einen guten Tipp für mich hast, lass ihn mir bitte zukommen. Vielleicht werde ich den Rest des Sommers in Hamburg bei meiner Schwester verbringen und an der Nordsee auf eine bahnbrechende siebente Welle warten. Jedenfalls gibt es keinen Grund für dich, traurig zu sein oder dir Sorgen um mich zu machen. Ich fühle mich zwar ein wenig ausgehöhlt, aber erfreulich echt. Ich sehe wenig, aber was ich sehe, sehe ich klar. Zum Beispiel dich — im kroatischen Gruftcafé und am Strand, im grünen Bikini. (Enttäusche mich nicht und behaupte, er sei blau!)
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