15 Minuten später
AW:
Liebe Emmi, in ein paar Stunden sitze ich im Zug nach Hamburg. Ich besuche meine Schwester Adrienne und bleibe bis Dienstag bei ihr. Du fährst mit deiner Familie nach Kroatien, am Mittwoch, oder? Dann werden wir uns wohl erst nachher sehen. Ich weiß, Emmi, du brennst darauf zu wissen, was geschehen ist. Du hast ein Recht darauf. Und ich habe ein Bedürfnis, es dir mitzuteilen. Ehrlich! Du wirst es erfahren, in allen Facetten, das verspreche ich dir. Nehmen wir nur noch Hamburg und Kroatien dazu. Ich muss die Dinge klarer sehen. Ich brauche Abstand — von Pamela und von mir. Nicht von dir, Emmi, glaube mir, nicht von dir!
Acht Minuten später
RE:
Größer kann dein Abstand zu mir ohnehin nicht mehr sein, mein Lieber. Leo, du machst mich wahnsinnig mit deinen ewigen Aufschüben, Verweigerungen, Vertröstungen und wortkargen Kehrtwendungen! Wenn ich aus Istrien zurückgekehrt bin, wirst du vermutlich deine Verlobung mit »Pam« bekannt geben. Aber du wirst mir leider noch keine »Facette« dieser Entscheidung mitteilen können. Denn du wirst »die Dinge erst einmal klarer sehen« müssen. Leo, ich mag nicht mehr! Nicht böse sein: Worauf auch immer du diesmal wartest, mir etwas Fundiertes über dich zu sagen, ich warte nicht mehr mit. Seit ich dich kenne, warte ich. Ich habe in diesen zweieinhalb Jahren dreimal so viel gewartet wie in den 33 Jahren davor. Hätte ich wenigstens irgendwann gewusst, worauf! Ich habe mich satt gewartet. Ich habe mich effektiv ausgewartet. Tut mir leid! (So, und jetzt wirst du wieder schweigen und schmollen.)
Eine Minute später
AW:
Nein, Emmi, ich schweige nicht und ich schmolle nicht. Ich fahre nach Hamburg. Und ich komme zurück. Und ich schreibe dir. Und ich werde keine Verlobung bekannt geben. Alles Liebe. Leo.
Fünf Tage später
Betreff: Abschied von Pamela
Guten Morgen, liebe Emmi. Gruß von Top 15 ans Mittelmeer! Ich bin zurück. Ich bin wieder. Ich bin wieder ich. Ich sitze vor meinem Laptop auf der Terrasse. Hinter meinem Rücken — eine dieser erbärmlich kargen Männerwohnungen, die gerade von einer Frau verlassen wurden.
Ich habe gestern mit ihr telefoniert. Sie ist gut angekommen, in Boston regnet es. Erstaunlich, wir können schon wieder miteinander reden, spröde zwar, mit trockenen Kehlen, mit Schluckbeschwerden, mit Würgegeräuschen, mit knirschenden Zähnen, aber wir können es. Erst vor einer Woche hatten wir das Kunststück vollbracht, uns gleichzeitig, ohne Vorankündigung und ohne Nennung von Gründen, stehenzulassen. Ich eröffnete: »Pamela, ich glaube, wir sollten.« Pamela vervollständigte: »Schluss machen, du hast Recht!«
Wir sind uns nichts schuldig geblieben, sind gemeinsam gescheitert, rund, elegant, formvollendet, mit perfekten Haltungsnoten, »synchron«. Wir haben unsere Enttäuschungen vor uns ausgebreitet, auf einen Haufen geworfen und gerecht aufgeteilt. Jeder hat seine Hälfte genommen. So sind wir auseinandergegangen. Beim Abschied haben wir uns umarmt, geküsst und gegenseitig auf die Schulter geklopft. Dabei haben wir einander, ohne es auszusprechen, »herzliches Beileid« gewünscht. Jeder weinte, weil ihn die Tränen des anderen rührten. Es war wie eine Begräbnisszene, als hätten wir eine gemeinsame Angehörige verloren. Haben wir auch! Wir nannten sie nur unterschiedlich. Für Pamela hieß sie Vertrauen, für mich Illusion. (Fortsetzung folgt, ich schicke das weg und mache mir einen Kaffee. Bis gleich!)
Zehn Sekunden später
Betreff: Abwesenheitsnotiz
ICH BIN DERZEIT AUF URLAUB UND WERDE MEINE E-MAILS ERST WIEDER AM 23. JULI ABRUFEN. FREUNDLICHE GRÜSSE, EMMI ROTHNER.
30 Minuten später
AW:
Damit habe ich gerechnet, Emmi. Und das ist gut so! Ich weiß ja gar nicht, ob du dir das anhören willst. So erfahre ich es frühestens in eineinhalb Wochen. Na, dann werde ich einmal ungeniert weiter ausholen, meine Liebe:
Pamela war die erste Frau, die mich nicht an dich erinnerte, die ich nicht an dir maß, die nichts von dir, meiner virtuellen Wunschvorstellung, hatte, und die mich dennoch anzog. Ich sah sie und wusste, dass ich mich in sie verlieben musste. Das war mein Trugschluss, meine Fehlentscheidung: das »Müssen«, der Plan, die Absicht, mein dringliches Bemühen. Ich war beseelt davon, sie zu lieben. Ich bin darin aufgegangen. Ich habe bis zuletzt alles dafür gemacht. Nur eines nicht: Ich habe nie hinterfragt, ob ich es auch tue.
Es gab drei Phasen mit Pamela. Vier Monate in Boston: Das war meine beste Zeit mit ihr, das war MEINE Zeit mit ihr, keinen Tag davon möchte ich missen. Als ich vergangenen Sommer von Amerika nach Hause kam, warst du da, Emmi. Schon wieder, noch immer: DU! Meine Schränke voll sorgsam verstauter Gefühle. Wie naiv war ich zu glauben, dass sie von selbst verschwunden sein könnten. Du hast mich schnell daran erinnert, dass es kein Ende ohne Anfang gab. Wir trafen uns. Ich habe dich gesehen. DICH GESEHEN! Was sollte ich damals zu dir sagen? Was soll ich heute dazu sagen? Ich war in Phase zwei mit Pamela: eine Fernbeziehung, unterbrochen durch aufregende Entdeckungsreisen und Schübe gewaltiger Sehnsüchte nach der ganz normalen steten Zweisamkeit mit Brot- und Milcheinkäufen und Auswechseln von Staubsäcken.
Wie vertrieb ich mir die Wartezeit auf meine Zukunft? Mit dir, Emmi. Wem habe ich inzwischen raumlos beigewohnt? Dir, Emmi. Mit wem habe ich in meinem geheimen Inneren gelebt? Mit dir, Emmi. Immer nur mit dir. Und meine schönsten Fantasien hatten nun auch noch ein Gesicht. Dein Gesicht. Und dann kam Pamela und blieb. Phase drei. Ich legte den Hauptschalter in meinem Kopf um: Emmi aus, Pamela an. — Ein brutales Unterfangen. Volle Konzentration auf die »Frau fürs Leben«, die Erwählte, die es zu lieben galt. Angewandte »Alles-Illusion«. Du hattest mir das Stichwort gegeben, ich glaubte, damit weiter zu kommen als Bernhard und du mit eurer »Vernunftehe«. Vielleicht wollte ich es dir auch nur beweisen. Ich war bemüht, alles zu tun, um Pamela glücklich zu machen. Sie fühlte sich anfangs geschmeichelt und geborgen. Mir selbst tat es gut, es war ein geschicktes Ablenkungsmanöver, eine sinnvolle Beschäftigungstherapie: Nur ja nicht in mich selbst hineinhorchen, nur ja nicht zu viel bei Emmi sein. Jede persönliche E-Mail, jeder innige Gedanke an dich musste sofort mit einer Geste der Verbundenheit zu Pamela entschuldigt und wettgemacht werden. Damit beruhigte ich mein schlechtes Gewissen. Nun, sie ließ sich von meinem Überschuss an Liebesbeteuerungen nicht lange beeindrucken. Bald fühlte sie sich irritiert, überfordert, in die Enge getrieben. Sie benötigte Freiraum, Auslauf, Zuflucht mit Heimvorteil. Da gab es nur einen Ort: Boston. Ich sah darin die einzig verbliebene Chance zur Verwirklichung meiner Illusion.
Du kennst meine E-Mails. Unser Abtast-Urlaub war gut genug, dass ich mir einbildete, es mit ihr an der US-Ostküste probieren zu wollen. Anfang nächsten Jahres wollten wir »auswandern«, die Weichen waren gestellt, Job und Wohnung in Aussicht. Aber dann, aber dann, aber dann. (…) Ja, dann habe ich ihr von dir erzählt, Emmi.
Schöne Stunden am Strand! Leo.
Acht Stunden später
RE:
Warum hast du ihr von mir erzählt?
Hi Leo, übrigens. Du hast ja hoffentlich nicht ernsthaft angenommen, dass ich dich jetzt eine Woche ohne meine Zwischentöne melodramatische »Pam«-Phasen-Analysen ausbreiten lasse, damit dir nachträglich wieder für Monate die Luft ausgeht. Apropos Luft: Ich befinde mich gerade in einem wunderschön schwarzwandigen,sorgsam verdunkelten, mit Death Metal beschallten, etwa drei Quadratmeter großen Internet-Gruft-Café für die durchgepiercte Nachfolgegeneration der kroatischen No-Future-Bewegung, einem Lokal, in dem man als Passivraucher in fünf Minuten mehr inhaliert als ein durchschnittlicher Kettenraucher in einer Stunde. In meinem Zustand einer nihilistisch illuminierten Schwade klingen deine nachträglichen »Pam«-Betrachtungen deshalb besonders bizarr. Also komm, setze ungeniert fort! Warum hast du ihr von mir erzählt? Was war danach? Und wie geht jetzt alles weiter? An einem der nächsten Nachmittage hole ich mir in dieser guten Internet-Stube deine Aufzeichnungen ab, sofern meine Lunge inzwischen nicht durchgebrannt ist. Küsschen, Emmi. PS (ganz klassisch): Ich freu mich auf ein Wiedersehen!
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