9) Weil eben Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende nicht gleich Ende ist, Leo. Weil jedes Ende letzten Endes auch ein Anfang ist.
Schönen Abend noch. Und danke, dass du geschrieben hast! Emmi.
Zehn Minuten später
AW:
Du bist ausgezogen, Emmi? Hast du dich von Bernhard getrennt?
Zwei Stunden später
RE:
Ich bin umgezogen, habe mich ein Stück zurückgezogen. Ich bin zu Bernhard auf Distanz gegangen. Jetzt haben wir ungefähr den Abstand zueinander, der unserer Beziehung der vergangenen zwei Jahre entspricht. Ich bemühe mich, die Kinder nicht darunter leiden zu lassen. Ich will weiter für sie da sein, wann immer sie mich brauchen. Für Jonas ist die neue Situation schlimm. Du solltest seinen Blick sehen, wenn er mich fragt: »Warum schläfst du nicht mehr zu Hause?« Ich erwidere: »Papa und ich verstehen uns momentan nicht sehr gut.« Jonas: »Aber in der Nacht ist das doch egal.« Ich: »Nicht, wenn man nur durch eine dünne Wand getrennt ist.« Jonas: »Dann tauschen wir zwei eben Schlafzimmer. Mich stört eine dünne Wand zum Papa überhaupt nicht.« — Was sagt man darauf?
Bernhard sieht seine Fehler und Versäumnisse ein. Er schämt sich. Er ist zerknirscht, niedergeschlagen, völlig fertig. Er versucht zu retten, was noch zu retten ist. Ich versuche zu erkennen, ob es noch etwas zu retten gibt. Wir haben viel geredet in den letzten Monaten, leider um einige Jahre zu spät. Wir haben erstmals hinter die Fassade unserer Beziehung geblickt: alles modrig und desolat. Nie daran gearbeitet, nie sauber gemacht, nie gelüftet, alles verkommen, schwerer Schaden. Ob sich das je wieder gutmachen lässt?
Wir haben auch viel über dich geredet, Leo. Aber das erzähle ich dir nur, wenn du es wissen willst. — (Da du es natürlich wissen willst, bleiben wir in E-Mail-Kontakt. Das ist mein Plan!) Ich will dich nicht belästigen, aber meine Therapeutin ist eben überzeugt davon, dass du mir guttust. Sie sagt: »Ich verstehe gar nicht, warum Sie bei mir so teure Stunden nehmen. Bei Ihrem Leo Leike kriegen Sie das alles gratis. Also bemühen Sie sich gefälligst um ihn!« Also bemühe ich mich gefälligst um dich, lieber Leo. Und du bist herzlich eingeladen, dich ein bisschen um mich zurückzubemühen. Gute Nacht.
Am nächsten Abend
Kein Betreff
Liebe Emmi, es ehrt mich, dass mir deine Psychotherapeutin zutraut, sie ersetzen zu können. (»Gratis« wäre freilich zu billig, aber ich würde dir einen guten Preis machen.) Und ich freue mich natürlich, dass sie jedenfalls überzeugt ist, dass ich dir guttue. Doch sei bitte so freundlich und frage sie, ob sie mir denn auch versichern könne, dass DU mir guttust.
Alles Liebe, Leo.
Eine Stunde später
RE:
Sie denkt nur an mein Wohl, nicht an deines, lieber Leo. Wenn du nicht weißt, was gut für dich ist, und wenn du es wissen willst, musst du dir einen eigenen Therapeuten nehmen. Würde ich dir übrigens sehr ans Herz legen, wird dir aber wohl zu aufwändig sein.
Angenehmen Abend, Emmi.
PS: Äh, du, Leo, ich würde so schrecklich gerne wissen, wie es dir geht. Willst du mir nicht ein bisschen etwas verraten? Kannst du nicht wenigstens ein paar Andeutungen machen? Bitte!!
Eine halbe Stunde später
AW:
Andeutung eins: Ich bin schon seit drei Wochen erkältet.
Andeutung zwei: Ich bin nur noch drei Wochen allein.
Ausführung zur Andeutung zwei: Pamela ( »Pam«) kommt.
Und bleibt.
Zehn Minuten später
RE:
Oh, das ist aber eine Überraschung! Gratuliere, Leo, das hast du dir redlich verdient! (Ich meine natürlich »Pam«, nicht die Erkältung.) Gruß, Emmi.
Fünf Minuten später
AW:
Da fällt mir jene Frage ein, die wir uns vor einigen Monaten gegenseitig gestellt und nie beantwortet haben. Sie lautete: Hat sich durch unsere Treffen etwas bei uns verändert? — Für meinen Teil: Ja! Seit ich dein Gesicht vor mir habe, wenn ich deine Zeilen lese, kann ich viel schneller erkennen, in welcher Stimmung du gerade bist, wenn du mir schreibst, und wie deine Worte tatsächlich gemeint sind, wenn sie ganz bestimmt anders gemeint sind, als sie hier stehen. Ich sehe deine Lippen, wie sie die Worte hinauslassen. Ich sehe deine verschleierten Pupillen, wie sie den Vorgang kommentieren. Vorhin schriebst du: »Oh, das ist aber eine Überraschung! Gratuliere, Leo, das hast du dir redlich verdient.« Und damit meintest du: »Oh, das ist vielleicht eine Ernüchterung! Aber selber schuld, Leo, du hast dir offenbar nichts Besseres verdient.« In Klammern merktest du dann noch scherzhaft an: »Ich meine natürlich >Pam<, nicht die Erkältung.« Und das sollte bitterböse heißen: »Immer noch besser eine dreiwöchige Erkältung als auf Dauer diese >Pam
Drei Minuten später
RE:
Nein, Leo, ich bin vielleicht manchmal bitter, aber ich bin nicht bitterböse. Ich bin überzeugt davon, dass »Pam« eine interessante Frau ist und dass sie dir guttut, besser als jeder Heuschnupfen. Schickst du mir ein Foto von ihr?
Eine Minute später
AW:
Nein, Emmi.
30 Sekunden später
RE:
Warum nicht?
Zwei Minuten später
AW:
Weil ich nicht wüsste, was du damit anfangen solltest. Weil es für dich völlig unerheblich ist, wie sie aussieht. Weil ich nicht will, dass du dein Aussehen mit ihrem vergleichst. Weil ich müde bin. Weil ich jetzt schlafen gehe. Gute Nacht, Emmi.
Eine Minute später
RE:
Du schreibst trotzig und gereizt, Leo. Warum? 1.) Gehe ich dir auf die Nerven? 2.) Bist du nicht glücklich? 3.) Oder besitzt du kein Foto von ihr?
20 Sekunden später
AW:
Nein.
Doch.
Doch.
Gute Nacht!
Am nächsten Abend
Betreff: Entschuldigung
Tut mir leid, wenn ich ruppig war. Ich habe momentan nicht meine beste Phase. Ich melde mich wieder! Alles Liebe, Leo.
Zwei Stunden später
RE:
Ist schon gut. Melde dich, wenn du dich wieder meldest. Du musst gar nicht deine beste Phase haben. Ich würde mich auch mit deiner zweitbesten zufriedengeben. Emmi.
Drei Tage später
Betreff: Meine Phase
Liebe Emmi, wieso habe ich seit drei Tagen das (mitunter durchaus quälende) Gefühl, dass du ungeduldig darauf wartest, dass ich dir endlich erkläre, inwiefern ich momentan nicht meine beste Phase habe? Gruß, Leo.
Vier Stunden später
RE:
Wahrscheinlich weil du das Bedürfnis hast, es mir zu erklären. Wenn du es mir unbedingt erklären willst, dann erkläre es mir einfach, und rede nicht herum.
Zehn Minuten später
AW:
Nein, Emmi, ich habe absolut kein Bedürfnis, es dir zu erklären! Ich kann es dir nämlich gar nicht erklären, denn ich kann es mir selbst nicht erklären. Paradoxerweise glaube ich aber, dir eine Erklärung schuldig zu sein. Wie erklärst du dir das?
Acht Minuten später
RE:
Keine Ahnung, Leo. Vielleicht bist du mir gegenüber plötzlich paranoid phasenaufklärungsbedürftig. (Übrigens ein völlig neuer Zug an dir.) Wenn du willst, frage ich meine Therapeutin, ob sie da wen kennt, irgendeinen guten Phasenaufklärungsbedürftigkeitsexperten.
Nur zu deiner Entkrampfung: Du musst mir nicht erklären, warum du »momentan nicht deine beste Phase« hast. Ich weiß es ohnehin.
Drei Minuten später
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