»Von mir aus! Das sieht ja fast so aus, als hätte ich ein Privatauto angehalten in der Annahme, es sei ein Taxi.«
Keine Zeit für Lappalien, Sunnyboy! Mein Fehler war, daß ich eine Weile lang einem Feind vertraute, weil ich ihn für einen Freund hielt. Aber ich bin glücklich über meine Freiheit. Meine Klasse hat mich ins Wasser gestoßen, als das Schiff bereits sank, aber ich bin glücklich über meine Freiheit. Ich bin frei wie ein Vogel. Das ist das wahre Glück, wenn man an nichts und niemanden mehr gebunden ist, an keine Klasse, an kein Vaterland, an keine Pflicht. Von meiner Religion weiß ich nur noch so viel, daß Gott verzeiht und barmherzig ist.
Vergiß es, Sunnyboy, vergiß es!
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Draußen herrscht ein Lärm, der für die Pension ganz und gar ungewöhnlich ist.
Ich bin nach meinem Nachmittagsschläfchen auf der Stelle hellwach und gehe in den Salon. Im Entree ist ganz offensichtlich eine Prügelei im Gange. Ich schaue durch einen Spalt im Wandschirm, und mir bietet sich ein wahrhaft amüsanter Anblick: Eine unbekannte Frau hält unseren Freund al-Buheri am Kragen und prügelt und schimpft auf ihn ein. Zuchra steht daneben, das reinste Nervenbündel, stößt aufgeregt irgendwelche Worte hervor und versucht, die beiden voneinander zu trennen. Da stürzt sich die Frau plötzlich auf Zuchra. Doch die stellt unter Beweis, daß sie sich auf Prügeleien hervorragend versteht. Sie versetzt ihr zwei Faustschläge, treibt sie mit jedem ein Stück zurück, bis sie sie schließlich an die Wand gedrängt hat. Sie ist schön, aber sie hat eine eiserne Faust wie ein Landpolizist. Ich bleibe in meinem Versteck, um von dieser exklusiven Show ja nichts zu verpassen. Aber als ich eine Tür quietschen höre, trete ich vor, packe die unbekannte Frau am Handgelenk und ziehe sie hinaus, mit nichts weiter bekleidet als dem Morgenmantel über dem Pyjama. Ich stoße sie sanft vor mir her, bekunde ihr mein äußerstes Bedauern und biete ihr meine Dienste an. Sie kocht vor Wut, schimpft und flucht. Es sieht nicht so aus, als ob sie mich überhaupt bemerkt.
Sie ist gar nicht so übel. Auf dem zweiten Treppenabsatz kann ich sie dazu bringen, stehen zu bleiben, und sage ihr: »Warten Sie einen Moment! Sie müssen sich erst wieder herrichten, bevor Sie auf die Straße hinausgehen!«
Sie ordnet ihr Haar und klammert den zerrissenen Kragen ihres Kleides mit einer Haarnadel zu. Dann reiche ich ihr ein parfümiertes Taschentuch, damit sie sich das Gesicht abwischen kann.
»Mein Wagen steht vor dem Haus. Ich werde Sie nach Hause bringen, wenn Sie gestatten.«
Zum ersten Mal schaut sie mich an, dankt mir schnell. Dann gehen wir gemeinsam hinunter. Sie setzt sich neben mich ins Auto, und ich frage sie, wohin ich sie bringen soll. Sie murmelt heiser: »Nach Mazarita.«
Wir fahren unter einem wolkenverhangenen Himmel, und die Dunkelheit überrascht uns vor der Zeit. »Schlimm, wenn einen die Wut so packt!« sage ich, um sie zum Reden zu bringen.
»Dieser Mistkerl!« schimpft sie.
»Er macht aber doch den Eindruck eines anständigen Fellachen!«
»Ein Mistkerl!«
»Er ist wohl Ihr Verlobter?« frage ich mit verstecktem Sarkasmus.
Doch sie antwortet nicht. Sie ist immer noch höchst erregt. Und sie ist wirklich nicht übel. Mit Sicherheit irgendwie professionell. Ich halte vor einem Gebäude in der Lido-Straße.
Sie sagt, während sie die Tür aufmacht: »Besten Dank! Sie sind wenigstens ein anständiger Mensch!«
»Ich möchte Sie aber jetzt nicht gern allein lassen. Ich möchte ganz sichergehen, daß Sie sich wirklich besser fühlen.«
»Danke schön, mir geht es bestens!«
»Soll das heißen, daß wir uns nicht wiedersehen?«
Sie streckt mir zum Abschied die Hand entgegen und erklärt dann: »Ich arbeite im Genevoise!«
Als ich wende, bin ich noch höchst begierig, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Aber mein Eifer ist schon erloschen, bevor ich vor dem Haus angelangt bin. Die Sache liegt eigentlich auf der Hand. Banalitäten. Eine Liebesaffäre, ein entlaufener Liebhaber und dann die übliche Prügelei. Da hat er nun Zuchra getroffen und eine neue Geschichte begonnen. Die Frau ist jedenfalls nicht übel. Und vielleicht kann ich sie eines Nachts gebrauchen. Aber warum nur habe ich die Strapazen dieses blödsinnigen Ausflugs auf mich genommen?
Vergiß es, Sunnyboy, vergiß es.
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Das Auto fliegt über die aschgrauen Straßen. Straßenlaternen und Kampferbäume galoppieren in Gegenrichtung an mir vorbei. Diese rasende Geschwindigkeit belebt das Herz, vertreibt Faulheit und Langeweile. Die Luft sirrt, Zweige erbeben und zersplittern in wahnwitzigen Wellen. Manchmal strömt Regen nieder, wäscht den Ackerboden, und die Felder erglänzen in glitzerndem Grün. Von der Festung Qajitbey nach Abuqir, von der Küste nach al-Sijuf, vom Zentrum der Stadt in ihre Vororte. Über jedes Stück planierten und asphaltierten Bodens rase ich mit meinem Wagen.
Die Zeit verstreicht, und ich unternehme keinerlei ernsthafte Schritte, um das Projekt zu verwirklichen. Statt dessen kommt es mir in den Sinn, eine Entdeckungsreise zu den heißen Adressen von früher zu unternehmen. Ich besuche eine alte Kupplerin in al-Schatbi, und sie bringt mir ein einigermaßen akzeptables Mädchen für den Morgen. Das Mittagessen nehme ich bei einer anderen Kupplerin im Sporting-Club ein. Sie versorgt mich mit einer Armenierin, die wirklich außergewöhnliche Qualitäten aufweist. Die Kupplerin im Sidi Gaber [55] Sidi Gaber : Stadtviertel im Osten Alexandrias.
vermittelt mir ein wahres Prachtstück, die Tochter einer italienischen Mutter und eines syrischen Vaters. Ich bestehe darauf, sie zu einer Autofahrt einzuladen. Sie warnt mich vor den grauen Wolken, die Regen ankündigen. Ich sage ihr, daß ich mir wünschte, daß es in Strömen gösse. Als wir auf der Landstraße nach Abuqir sind, bricht tatsächlich heftiger Regen los. Die Menschen fliehen. Ich mache die Fenster zu und schaue auf das herabströmende Wasser, die tanzenden Bäume und das reine, endlose, offene Land. Die Schöne aber hat Angst und meint, das sei Wahnsinn. Ich entgegne ihr, sie solle sich zwei splitternackte Menschen vorstellen, die wie wir in einem Auto steckten, aber trotzdem sicher sind vor aller Neugier, die sich im Takt der zuckenden Blitze, der Donnersalven und des rauschenden Regens küssen. Sie wendet ein, das sei ganz und gar unmöglich. Ich frage sie, ob sie nicht Lust habe, im Schutz dieses elementaren Zornesausbruchs der Welt und allen, die auf ihr sind, die Zunge herauszustrecken. Unmöglich sei das, meint sie, vollkommen unmöglich. Das werde aber gleich passieren, sage ich ihr, nehme einen Schluck aus der Flasche, und jedesmal, wenn der Donner lospoltert, fordere ich ihn auf, lauter zu grollen. Ich flehe den Himmel an, seine Wassertanks zu entleeren. Die Schöne meint, dann könne das Auto streiken: Ich bekräftige: »Amen, Amen, Amen!« Sie fürchtet, es könne dunkel werden. Ich finde, es soll ewig dauern. »Du bist verrückt«, schimpft sie, »total verrückt!«
Ich schreie, so laut ich kann: »Vergiß es, Sunnyboy, vergiß es!«
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Am Frühstückstisch höre ich die seltsame Kunde über Zuchras Entschluß, etwas zu lernen. Sie bekommt unterschiedliche Kommentare zu hören, die nicht frei sind von Foppereien, aber ihr doch insgesamt Mut machen wollen. Die Geschichte schneidet mir ins Herz und reißt alte Wunden auf. Schließlich hat sich um mich nie jemand wirklich gekümmert, als ich aufgewachsen bin. So habe ich mich voll und ganz ins Amüsement gestürzt. Damals habe ich nichts bereut, aber ich habe zu spät begriffen, daß die Zeit gegen mich arbeitet, nicht für mich, wie ich zunächst angenommen hatte. So hat sich also das Fellachenmädchen entschlossen, etwas zu lernen. Madame setzt mir auseinander, was sie auf dem Dorf erlebt und was sie nach Alexandria getrieben hat. Mir wird klar, daß sie ja gar nicht Madames Untergebene ist. Vielleicht ist sie sogar noch Jungfrau, wenn nicht Sarhan einer von denen ist, die dafür sorgen, daß eine Jungfrau nicht lange eine bleibt.
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