Raschid setzte seine Körperfülle ein, um sich einen Weg durch die Zuschauermenge zu bahnen und seine Frauen auf einen Platz zu führen, wo jemand über Lautsprecher Parolen kundtat.
Bei dem Anblick, der sich ihnen nun bot, stieß Aziza einen Schrei aus und verbarg ihr Gesicht in Mariams Burka.
Die Lautsprecherstimme gehörte einem schlanken, bärtigen jungen Mann mit schwarzem Turban auf dem Kopf. Er stand auf einem provisorisch zusammengezimmerten Podest und hielt eine Panzerfaust in der freien Hand. Unmittelbar neben ihm hingen zwei blutüberströmte Männer, aufgeknüpft unter dem Querträger einer Straßenlaterne. Ihre Kleider waren zerrissen und die entstellten Gesichter blauviolett angelaufen.
»Den einen kenne ich«, sagte Mariam, »den auf der linken Seite.«
Eine junge Frau, die vor ihr stand, drehte sich um und sagte, dass es Nadschibullah sei. Der andere war sein Bruder. Mariam erinnerte sich an Nadschibullahs volles Schnauzbartgesicht, das während der Jahre der sowjetischen Besetzung auf zahllosen Reklametafeln und in Schaufenstern zu sehen gewesen war.
Später erfuhr sie, dass die Taliban den früheren Präsidenten aus dem UN-Hauptquartier am Darulaman-Palast entführt, stundenlang gefoltert und dann, mit den Beinen an einen Lastwagen gefesselt, durch die Straßen geschleift hatten.
»Er hat viele, viele Muslime auf dem Gewissen«, brüllte der junge Talib durch sein Mikrofon. Er sprach abwechselnd Paschto und Farsi mit einem Paschto-Akzent. Seine Worte betonte er, indem er mit seiner Waffe immer wieder auf die Toten zielte. »Jeder weiß um seine Verbrechen. Er war Kommunist und kafir. Wie ihm wird es allen Ungläubigen ergehen, die sich am Islam versündigen.«
Raschid grinste.
Auf Mariams Arm fing Aziza zu weinen an.
Am folgenden Tag wurde Kabul von Kleintransportern überrollt. In Khair khana, Shar-e-Nau, Karteh-Parwan, Wazir Akbar Kahn und Taimani fuhren rote Toyota-Trucks durch die Straßen. Auf den Pritschen hockten bärtige Männer mit schwarzen Turbanen. Von jedem dieser Fahrzeuge tönte aus schepperndem Megafon eine offizielle Bekanntmachung. Dieselbe Mitteilung war auch über Lautsprecher auf den Moscheen und im Radio zu hören, dessen Sender nunmehr »Stimme der Scharia« hieß. Gleichzeitig wurde diese Mitteilung auf Flugblättern in den Straßen verteilt. Mariam fand eines im Hof.
Unser watan trägt ab sofort den Namen Islamisches Emirat Afghanistan. Dies sind die Gesetze, die wir durchsetzen werden und denen zu gehorchen ist:
Alle Bürger müssen fünfmal am Tag beten. Wer während der Gebetszeit etwas anderes tut und dabei überführt wird, wird mit Prügel bestraft.
Für alle Männer gilt Bartpflicht. Das korrekte Längenmaß des Bartes entspricht der Breite einer geballten Faust unter dem Kinn. Wer diese Vorschrift nicht beachtet, wird mit Prügel bestraft.
Alle Jungen tragen Turban. Schüler der ersten bis zur sechsten Klasse tragen schwarze, ältere Schüler weiße Turbane. Alle Jungen tragen Islamische Kleidung. Hemden sind bis zum Kragen zuzuknöpfen.
Singen ist verboten.
Tanzen ist verboten.
Kartenspiele, Schach, Glücksspiele und Drachensteigen-Lassen sind verboten.
Bücher zu schreiben, Filme anzusehen und Bilder zu malen ist verboten.
Das Halten von Papageien wird mit Prügelstrafe geahndet; die Vögel werden getötet.
Überführten Dieben wird die Hand am Handgelenk abgetrennt. Wiederholungstätern wird ein Fuß abgeschnitten.
Nicht-Muslime haben ihren Gottesdienst an Orten zu feiern, wo sie nicht von Muslimen gesehen werden können. Wer sich nicht daran hält, den erwarten Prügelstrafe und Inhaftierung. Der Versuch, einen Muslim zu einem anderen Glauben zu bekehren, wird mit dem Tod geahndet.
Frauen — aufgepasst:
Ihr werdet Euch zu allen Zeiten ausschließlich im Haus aufhalten. Es gehört sich nicht für eine Frau, ziellos auf Straßen herumzuziehen. Ausgänge sind nur in Begleitung eines mahram, eines männlichen Angehörigen, gestattet. Wer allein auf der Straße aufgegriffen wird, wird mit Prügel bestraft und nach Hause geschickt.
Ihr dürft unter keinen Umständen Euer Gesicht zeigen und werdet, wenn im Freien unterwegs, Burka tragen. Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Kosmetik ist verboten.
Schmuck ist verboten.
Das Tragen aufreizender Kleider ist verboten.
Ihr dürft nur sprechen, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet.
Ihr werdet mit Männern keinen Blickkontakt aufnehmen.
Ihr werdet in der Öffentlichkeit nicht lachen.
Zuwiderhandlung wird mit Prügelstrafe geahndet.
Das Lackieren der Fingernägel ist verboten. Bei Zuwiderhandlung wird ein Finger abgetrennt.
Für Mädchen ist der Besuch einer Schule verboten. Alle Mädchenschulen werden mit sofortiger Wirkung geschlossen.
Erwerbsarbeit ist Frauen verboten.
Wer sich des Ehebruchs schuldig macht, wird gesteinigt.
Nehmt dies zur Kenntnis. Gehorcht. Allah-u-akbar.
Raschid schaltete das Radio aus. Sie hockten auf dem Boden des Wohnzimmers und aßen zu Abend. Es war noch keine Woche her, dass sie Nadschibullahs Leiche an der Laterne hatten hängen sehen.
»Sie können doch nicht verlangen, dass die Hälfte der Bevölkerung zu Hause bleibt und nichts tut«, sagte Laila.
»Warum nicht?«, fragte Raschid. Mariam stimmte ihm ausnahmsweise zu. Von ihr und Laila verlangte er das schließlich schon lange. Das musste doch auch Laila begreifen.
»Wir leben schließlich nicht in irgendeinem Dorf, sondern in Kabul. Hier arbeiten Frauen als Rechtsanwältinnen und Ärztinnen; manche hatten Regierungsämter inne…«
Raschid grinste. »So spricht das arrogante Töchterchen eines Universitätsmannes, der Gedichte gelesen hat. Wie mondän, wie tadschikisch. Du hältst die Taliban wohl für verrückt. Aber hast du dich mal darum gekümmert, wie es in Afghanistan wirklich zugeht, im Süden, im Osten, entlang der pakistanischen Grenze? Nein? Ich schon. Und ich kann dir sagen, dass es in diesem Land viele Gegenden gibt, in denen das, was die Taliban jetzt auch bei uns einzuführen versuchen, längst gang und gäbe ist. Mehr oder weniger jedenfalls- Aber davon hast du ja keine Ahnung.«
»Ich mag es nicht glauben«, sagte Laila. »Das kann doch nicht deren Ernst sein.«
»Wie sie mit Nadschibullah umgegangen sind, erschien mir durchaus ernsthaft«, entgegnete Raschid. »Findest du nicht auch?«
»Er war Kommunist. Er war Chef der Geheimpolizei.«
Raschid lachte.
Mariam hörte seinem Lachen an, was er dachte: dass Nadschibullah als Kommunist und Chef der gefürchteten KHAD in den Augen der Taliban nur unwesentlich verachtenswerter war als eine Frau.
Laila
Laila war froh, dass Babi nicht miterleben musste, was nun im Namen der Taliban geschah. Es hätte ihn krank gemacht.
Mit Spitzhacken bewaffnete Männer stürmten das baufällige Kabul-Museum und zerschlugen Statuen aus vorislamischer Zeit, genauer gesagt, all das, was nicht schon von den Mudschaheddin geplündert worden war. Die Universität wurde geschlossen, die Studenten nach Hause geschickt. Gemälde wurden von den Wänden gerissen und mit Messern zerfetzt, Fernsehgeräte mit Füßen getreten, Buchhandlungen geschlossen und Bücher, mit Ausnahme des Koran, zu Bergen aufgehäuft und verbrannt. Werke von Khalili, Pazwak, Ansari, Hadschi Dehqan, Ashraqi, Behtab, Hafis, Jami, Nizami, Rumi, Khayyam, Beydel und vieler anderer gingen in Rauch auf.
Laila hörte davon, dass Männer unter dem Vorwurf, einen namaz ausgelassen zu haben, mit Gewalt in die Moschee getrieben wurden. Sie erfuhr, dass das Restaurant Marco Polo an der Hühnerstraße zu einer Verhörzentrale umgewandelt worden war. Hinter den schwarz verkleideten Fenstern wurden häufig Schreie laut. Die Bartpatrouille streifte auf Toyota-Transportern durch die Straßen auf der Suche nach glatt rasierten Gesichtern.
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