»In einer halben Stunde brechen wir auf«, sagte Laila.
Im Taxi sprachen sie miteinander kein Wort. Aziza saß auf Mariams Schoß; sie hielt ihre Puppe in den Händen und bestaunte mit großen Augen die vor den Scheiben vorbeifliegende Stadt.
»Ona !«, rief sie und zeigte auf eine Gruppe seilspringender Mädchen. »Mayam! Ona.«
Überall glaubte Laila Raschid zu sehen, vor dem rußgeschwärzten Fenster eines Friseurladens, bei einem Händler, der Hühner verkaufte, oder in einem zur Straße hin offenen Geschäft, in dem sich alte Autoreifen bis zur Decke stapelten.
Sie rutschte tiefer in ihren Sitz.
Mariam murmelte ein Gebet. Laila hätte ihr gern ins Gesicht gesehen, doch Mariam trug — wie sie selbst — eine Burka, in deren Ausschnitt nur das Glitzern ihrer Augen zu erkennen war.
Laila war seit Wochen das erste Mal außer Haus, abgesehen von dem kurzen Besuch beim Pfandverleiher am Tag zuvor, wo sie im Vollgefühl der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit ihrer Entscheidung den Ehering über die gläserne Ladentheke geschoben hatte.
Ringsum bekam Laila nun die Folgen der jüngsten Kämpfe zu Gesicht, Schutthalden aus Lehm und Ziegeln, Ruinen mit zerbrochenem Gebälk, ausgebrannte Fahrzeugwracks, umgestürzt oder aufeinanderliegend, von großkalibrigen Schusslöchern verwüstete Mauern und überall Glasscherben. Sie sah einen Trauerzug auf eine Moschee zustreben, ganz zum Schluss eine in Schwarz gekleidete alte Frau, die sich an den Haaren zerrte. Sie passierten einen Friedhof voll frischer Gräber und zerrissenen shaheed -Fahnen, die im Wind flatterten.
Laila griff über den Koffer und schloss die Hand um den weichen Arm ihrer Tochter.
Vor der Busstation am Lahore-Tor im Osten Kabuls parkte eine Schlange von Bussen am Straßenrand der Pul-e-Mahmood Khan. Männer in Turbanen hievten Bündel, Pakete und Koffer auf die Dächer der Busse und sicherten sie mit Seilen ab. In der Station drängten sich Reisende vor dem einzigen Fahrkartenschalter. Gruppen von Frauen, in Burkas verhüllt, standen zwischen Bergen von Gepäck und plauderten miteinander. Säuglinge wurden geschaukelt, streunende Kinder zurückgerufen.
Milizionäre der Mudschaheddin patrouillierten in der Station und auf dem Vorplatz. Die knappen Befehle, die sie ausstießen, klangen wie Gebell. Sie trugen Stiefel, pakols und staubgrüne Kampfanzüge. Alle waren mit Kalaschnikows bewaffnet.
Laila fühlte sich beobachtet. Ihr war, als sei sie allen an diesem Ort bekannt, als missbillige jeder, der sie sah, das, was sie und Mariam taten.
»Hast du schon jemanden entdeckt?«, fragte Laila.
»Ich suche noch«, antwortete Mariam und wechselte Aziza von einem Arm auf den anderen.
Dies — und das hatte Laila von Anfang an gewusst — war die erste Schwierigkeit ihres gewagten Unternehmens: einen Begleiter zu finden, der die Rolle eines Familienmitgliedes zu spielen bereit war. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die Frauen zwischen den Jahren 1978 und 1992 genossen hatten, gehörten nun der Vergangenheit an. Laila dachte an Babis Worte über die kommunistische Regierung: Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, Laila. Seit der Machtergreifung der Mudschaheddin im April 1992 jedoch lautete der offizielle Name ihres Heimatlandes »Islamischer Staat Afghanistan«. Der oberste Gerichtshof unter Rabbani bestand nun mehrheitlich aus rückwärtsgewandten Mullahs, die die von den Kommunisten eingeführten Freiheitsrechte für Frauen rückgängig gemacht und stattdessen Gesetze auf Grundlage der Scharia eingeführt hatten, jener strengen Islamischen Rechtssprechung, die unter anderem Frauen dazu verpflichtete, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Außerdem wurde ihnen untersagt, ohne einen männlichen Angehörigen zu verreisen. Noch wurde auf die Einhaltung dieser Gesetze nur wenig geachtet. »Aber wenn sie einmal nicht mehr so sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig totzuschießen«, hatte Laila zu Mariam gesagt, »dann werden sie die Gesetze mit Eifer durchsetzen.«
Weitere Schwierigkeiten erwarteten sie bei der Ankunft in Pakistan. Im Januar dieses Jahres hatte Pakistan, das bereits mit fast anderthalb Millionen afghanischen Flüchtlingen überfordert war, die Grenzen nach Afghanistan geschlossen. Laila hatte erfahren, dass nur Inhaber eines gültigen Visums durchgelassen wurden. Allerdings war die Grenze immer schon sehr porös gewesen, und Laila wusste, dass nach wie vor Tausende von Afghanen ins Nachbarland flohen, entweder mithilfe von Schmiergeldern oder dem Nachweis humanitärer Gründe. Außerdem gab es genügend Schlepper, die man anheuern konnte. »Wir werden einen Weg finden, wenn es so weit ist«, hatte sie Mariam versprochen.
»Wie wär’s mit dem?«, fragte Mariam jetzt und deutete mit einer Kinnbewegung auf einen Kandidaten.
»Dem traue ich nicht.«
»Und der da?«
»Zu alt. Und außerdem in Begleitung zweier anderer Männer.«
Schließlich fiel Lailas Blick auf einen bärtigen Mann, der neben einer verschleierten Frau auf einer Bank saß. Er war groß und schlank, trug ein Hemd mit offenem Kragen und einen schlichten grauen Mantel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Auf seinem Schoß hockte ein kleiner Junge in Azizas Alter.
»Warte hier«, sagte Laila. Im Weggehen hörte sie Mariam wieder ein Gebet murmeln.
Als sie auf den jungen Mann zuging, blickte er auf und legte die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.
»Entschuldigen Sie, Bruder, aber darf ich fragen, ob Sie nach Peschawar fahren?«
»Ja«, antwortete er blinzelnd.
»Könnten Sie uns vielleicht einen Gefallen tun?«
Er reichte seiner Frau den Jungen und trat mit Laila ein paar Schritte beiseite.
»Worum geht’s denn, hamshira ?«
Er hatte ein freundliches Gesicht und sanfte Augen, die Laila Mut machten.
Und so erzählte sie ihm die Geschichte, auf die sie sich mit Mariam verständigt hatte. Sie sei eine biwa, eine Witwe, sagte sie, und wolle mit Mutter und Tochter Kabul verlassen, um in Peschawar zu ihrem Onkel zu ziehen.
»Ihr wollt euch mir und meiner Familie anschließen«, sagte der junge Mann.
»Ich weiß, es ist zahmat. Aber mir scheint, Sie sind ein anständiger Bruder, und ich…«
»Keine Sorge, hamshira. Ich verstehe. Kein Problem. Dann will ich mal Karten für euch kaufen.«
»Danke, Bruder. Das ist sawab, eine gute Tat. Gott wird’s vergelten.«
Sie zog einen Umschlag unter ihrer Burka hervor. Er enthielt elfhundert Afghanis, ungefähr die Hälfte des Geldes, das sie in einem Jahr beiseitegelegt hatte. Der junge Mann steckte den Umschlag in seine Hosentasche.
»Warte hier.«
Sie sah ihn in der Station verschwinden. Eine halbe Stunde später kehrte er zurück.
»Es ist besser, wenn ich die Fahrkarten behalte. Der Bus fährt in einer Stunde, gegen elf. Wir steigen dann gemeinsam ein. Mein Name ist Wakil. Wenn es Fragen geben sollte, was ich aber nicht glaube, werde ich sagen, dass du meine Cousine bist.«
Laila nannte ihm ihren Namen und die von Mariam und Aziza. Er werde sie sich merken, sagte er.
»Und haltet euch in unserer Nähe auf«, fügte er hinzu.
Sie nahmen auf der Bank neben Wakil und seiner Familie Platz. Es war ein sonniger, warmer Morgen. Nur über den Bergen in der Ferne schwebten ein paar fedrige Wolken. Mariam gab Aziza einen der Kekse zu essen, an die sie in der Hektik des Aufbruchs zum Glück noch gedacht hatte. Sie bot auch Laila einen an.
»Nein, danke«, sagte Laila lachend. »Den würde ich wohl nicht bei mir behalten können. Ich bin so aufgeregt.«
»Ich auch.«
»Danke, Mariam.«
»Wofür?«
»Dafür, dass du mit uns kommst«, antwortete Laila. »Allein würd ich’s wahrscheinlich nicht schaffen.«
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