Mit einem Zipfel ihres hijab wischte sie den Schweiß von der Oberlippe und versuchte, Fassung zu bewahren.
Über mehrere Minuten blieb sie unbehelligt.
Dann tippte ihr jemand auf die Schulter. Mariam drehte sich um und schaute in das hellhäutige, fast kreisrunde Gesicht einer Frau, unter deren hijab kurzes, drahtiges Haar zum Vorschein kam. Die Unterlippe ihres vollen Mundes hing ein wenig herab, als würde sie von dem großen dunklen Leberfleck, der an der Seite prangte, heruntergezogen. Aus großen grünlichen Augen betrachtete sie Mariam mit freundlich aufmunterndem Blick.
»Du bist Raschid jans neue Frau, nicht wahr?«, sagte die Frau mit breitem Lächeln. »Die aus Herat. Wie jung du bist! Mariam jan , stimmt’s? Mein Name ist Fariba. Ich wohne in derselben Straße wie du, fünf Häuser weiter, hinter der grünen Tür. Das ist mein Sohn Noor.«
Der Junge an ihrer Seite hatte ein glattes, heiteres Gesicht und das drahtige Haar seiner Mutter. Am linken Ohrläppchen wucherte ein Büschel schwarzer Haare. Seine Augen hatten einen schelmischen, unbekümmerten Glanz. Er hob seine Hand. »Salaam, khala jan.«
»Noor ist zehn. Ich habe auch noch einen älteren Sohn, Ahmad.«
»Der ist dreizehn«, sagte Noor.
»Dreizehn und geht auf die vierzig zu«, lachte Fariba. »Mein Mann heißt Hakim. Er ist Lehrer hier in Deh-Mazang. Komm uns mal besuchen, wir könnten eine Tasse…«
Plötzlich und mit beängstigender Schnelligkeit drängten die anderen Frauen vor und bildeten einen Kreis um Mariam.
»Du bist also Raschid jans junge Braut…«
»Wie gefällt es dir in Kabul?«
»Ich bin schon einmal in Herat gewesen. Da wohnt ein Cousin von mir.«
»Willst du zuerst einen Jungen oder ein Mädchen?«
»Die Minarette dort, wunderschön. Was für eine herrliche Stadt!«
»Wünsch dir einen Jungen, Mariam jan , einen Stammhalter…«
»Bah! Jungen heiraten und machen sich aus dem Staub. Mädchen dagegen bleiben im Haus und kümmern sich um dich, wenn du alt bist.«
»Wir haben davon gehört, dass du kommst.«
»Am besten gleich Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Dann sind alle froh.«
Mariam wich zurück. Sie atmete flach und in kurzen Stößen. Es summte ihr in den Ohren, der Puls flatterte, ihr Blick irrte hin und her. Sie versuchte, noch weiter zurückzuweichen, war aber im Kreis der Frauen gefangen. Sie erhaschte einen Blick von Fariba, die ihre Notlage zu bemerken schien und die Stirn runzelte.
»Lasst sie in Ruhe«, sagte Fariba. »Rückt zur Seite, ihr macht ihr ja Angst.«
Den Teigballen an die Brust gepresst, bahnte sich Mariam einen Weg durch die Frauenmenge.
»Wohin so eilig, hamshira ?«
Sie drängte weiter und rannte die Straße entlang. Als sie die nächste Kreuzung erreichte, fiel ihr auf, dass sie in die falsche Richtung gelaufen war. Sie machte kehrt und rannte, den Kopf auf die Brust gesenkt, zurück, stolperte und schlug sich das Knie auf.
»Was ist los mit dir?«, rief eine der Frauen, als Mariam an ihnen vorbeihastete.
»Du blutest, hamshira !«
Mariam eilte weiter, bog um die eine und andere Ecke und fand sich schließlich in der richtigen Straße wieder, wusste aber nicht mehr, welches das Haus von Raschid war. Keuchend und den Tränen nahe lief sie die Straße auf und ab und rüttelte wahllos an den Außentoren. Manche waren verschlossen, andere öffneten sich in fremde Vorhöfe. Hunde bellten, Hühner schreckten auf. Mariam stellte sich vor, Raschid käme nach Hause zurück, während sie immer noch mit blutendem Knie umherirrte, verloren in der eigenen Straße. Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten und geriet in Panik, stammelte Gebete und stieß an jedes Tor, bis sie endlich zu ihrer großen Erleichterung in den Vorhof mit der Handpumpe und dem Werkzeugschuppen blickte. Sie warf die Tür hinter sich zu und legte den Riegel vor, fiel dann entkräftet neben der Mauer zu Boden und übergab sich. Als sich der Krampf gelöst hatte, lehnte sie den Oberkörper an die Mauer und streckte die Beine aus. Nie zuvor hatte sie sich dermaßen einsam gefühlt.
Raschid kam am Abend mit einer braunen Papiertüte nach Hause. Er bemerkte nicht, dass die Fenster geputzt, die Böden gefegt und die Spinnweben entfernt waren, zeigte sich aber erfreut darüber, dass sie auf dem Wohnzimmerboden eine saubere sofrah ausgebreitet und mit seinem Essgeschirr
eingedeckt hatte.
»Ich habe daal gekocht«, sagte Mariam.
»Gut. Ich habe Hunger bis unter beide Arme.«
Mit dem Wasser aus der aftawa wusch sie ihm die Hände, und während er sie mit einem Tuch trocknete, servierte Mariam ihm eine Schale mit dampfendem daal und flockigem weißem Reis auf einem Teller. Es war die erste Mahlzeit, die sie für ihn gekocht hatte, und Mariam fürchtete, dass sie ihr womöglich nicht gut genug gelungen war. Bei der Zubereitung hatte ihr immer noch der Schock über den Zwischenfall vor dem tandoor in den Gliedern gesteckt, und den ganzen Tag über war sie in Sorge darüber gewesen, ob die Linsen denn auch die richtige Konsistenz und Farbe hatten, ob womöglich zu viel Ingwer und zu wenig Kurkuma beigegeben waren.
Er tauchte seinen Löffel in das goldgelbe daal.
Mariam hielt die Luft an. Was, wenn er enttäuscht oder verärgert wäre? Was, wenn er seinen Teller angewidert von sich schöbe?
»Vorsichtig«, gelang es ihr zu sagen. »Es ist heiß.«
Raschid spitzte die Lippen, pustete auf den Happen und steckte ihn in den Mund.
»Gut«, sagte er. »Ein bisschen wenig Salz, aber gut. Vielleicht sogar besser als gut.«
Erleichtert schaute Mariam ihm beim Essen zu. Vielleicht sogar besser als gut. Sie ließ sich seine Worte auf der Zunge zergehen und war selbst überrascht, wie sehr sie dieses kleine Kompliment mit Stolz erfüllte. Es versöhnte sie ein wenig mit den Schrecken des Vormittags.
»Morgen ist Freitag«, sagte Raschid. »Was hältst du davon, wenn ich dir morgen die Stadt zeige?«
»Kabul?«
»Nein. Kalkutta.«
Mariam sah ihn sprachlos an.
»Sollte ein Witz sein. Natürlich Kabul. Was sonst?« Er langte in die braune Papiertüte. »Aber zuerst muss ich dir was sagen.«
Er zog eine himmelblaue Burka aus der Tüte. Der plissierte Stoff fiel ihm über die Knie. Er hob ihn in die Höhe und schaute Mariam an.
»Ich habe Kunden, Mariam, Männer, die mit ihren Frauen in den Laden kommen. Diese Frauen sind unverhüllt; sie schauen mir direkt ins Gesicht, ohne jede Scham. Sie sind geschminkt und tragen Röcke, die gerade bis zum Knie reichen. Manche halten mir sogar ihre bloßen Füße hin, damit ich Maß nehme, und ihre Männer stehen daneben und sehen zu. Sie erlauben und denken sich anscheinend nichts dabei, wenn ein Fremder die nackten Füße ihrer Frauen berührt. Sie halten sich für moderne Männer, für Intellektuelle. Bilden sich womöglich was auf ihre Schulausbildung ein. Dass sie damit ihren nang und namoos, ihre Ehre und ihren Stolz, gefährden, scheint ihnen gar nicht bewusst zu sein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Die meisten von ihnen kommen aus den reicheren Vierteln von Kabul. Da führ ich dich hin. Du wirst sehen. Es gibt allerdings auch hier, Mariam, hier in unserem Viertel, solche weichen Männer. Da wäre zum Beispiel dieser Lehrer. Er heißt Hakim und wohnt ein paar Häuser weiter unten an der Straße. Seine Frau Fariba sieht man ständig nur mit einem Schal bedeckt in den Straßen herumlaufen. Ich finde es regelrecht beschämend, wenn ein Mann die Kontrolle über seine Frau verloren hat.«
Er bedachte Mariam mit einem festen Blick.
»Ich bin ein Mann von anderem Schlag, Mariam. Ich komme aus einer Gegend, in der jeder falsche Blick, ein einziges falsches Wort mit Blut vergolten wird. Wo ich herkomme, ist das Gesicht einer Frau einzig und allein Sache ihres Ehemannes. Ich möchte, dass du immer daran denkst. Verstehen wir uns?«
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