In den letzten zwei Jahren hat sich mein Heimatort sprunghaft verändert. Der neue Parteisekretär ist ein junger Typ von nicht mal vierzig Jahren, der seinen Doktor in den USA gemacht hat – ein imposanter Mann mit großen Visionen. Man hört, dass er das Gebiet an beiden Ufern des Kiaolai wirtschaftlich erschließen will. Etliche Großprojekte sind bereits von Ingenieuren in Angriff genommen worden. Nur wenige Jahre werden vergehen, und die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses, die Sie bei Ihrem letzten Besuch gesehen haben, wird ausgelöscht sein. Ob diese auf uns zukommenden Veränderungen nun positiv oder negativ zu bewerten sind, darüber maße ich mir kein Urteil an.
Diesem Brief füge ich auch gleich das dritte Paket mit Berichten über meine Tante bei – ich mag sie nicht mehr Briefe nennen, da sie so zahlreich geworden sind. Es ist mir zu peinlich. Natürlich schreibe ich weiter, denn Ihr Lob, Sugitani san, treibt mich an.
Wir Dörfler laden Sie, Herr Sugitani san, hiermit noch einmal herzlichst ein, unser Gast zu sein und uns zu besuchen, sobald es Ihre Zeit erlaubt. Wir werden Sie wie einen alten Freund ohne steife Höflichkeitsrituale herzlich bei uns aufnehmen.
Noch eins: ich und meine Frau werden bald in Rente gehen und das zum Anlass nehmen, wieder heim in unser Dorf zu ziehen. Von Anfang an haben wir uns in Peking wie Fremde gefühlt. Kürzlich beschimpften sich zwei Frauen, die angeblich wie Schwestern in einem unserer engen Pekinger Hutongs zusammen aufwuchsen, grundlos ganze zwei Stunden in voller Lautstärke. Das bestärkte uns in unserem Entschluss, in die Heimat zurückzukehren. Dort werden die Menschen hoffentlich nicht derart verletzend miteinander umgehen, und dort ist man der Literatur dann hoffentlich näher.
Kaulquappe
Peking, am Neujahrsmorgen 2004
1
Nachdem ich meine Frau Renmei beerdigt hatte und meine Familie wieder sicher zu Hause angelangt war, kehrte ich in Windeseile zur Truppe zurück.
Ein voller Monat verging. Da erreichte mich wieder ein Telegramm:
Mutter ist gestorben. Komm schnell nach Hause.
Ich ging mit dem Telegramm zu meinem Vorgesetzen, um Urlaub zu beantragen, gleichzeitig gab ich noch schnell ein Gesuch ab, in dem ich um meine Entlassung aus dem Militärdienst und die Rückkehr ins zivile Leben bat.
An dem Abend, an dem ich meine Mutter beerdigte, ergoss sich das weiche helle Mondlicht wie ein silbernes Band in unseren Hof. Meine Tochter schlief unter dem Birnbaum auf einer Strohmatte, mein Vater hielt ihr mit einem Fächer die Mücken vom Leib. Auf dem Gerüst mit den Zuckerschoten zirpten laut die Heupferdchen, vom Fluss her tönte das Rauschen des Wassers.
»Es ist wohl trotz alledem besser, eine neue Frau zu suchen«, seufzte mein Vater. »Ohne Frau im Haus fehlt einem das Gefühl, zu Hause zu sein.«
»Ich habe meine Entlassung schon eingereicht, warte noch damit, bis ich wieder zurück bin.«
»Was hatten wir es gut! Und nun ist von einem zum anderen Augenblick alles in Scherben«, klagte mein Vater, »und wir wissen nicht einmal, wem wir die Schuld dafür geben sollen.«
»Eigentlich ist es ja auch nicht Gugus Schuld. Sie hat keinen Fehler gemacht.«
»Ich hab auch gar nicht gesagt, dass ich sie dafür verurteile. Es ist wohl Schicksal«, sagte mein Vater.
»Es gibt niemanden, der unserem Land so bedingungslos, so treu bis in den Tod, zu Diensten ist. Die politischen Ziele unserer Führung sind eben nicht anders umsetzbar.«
»Es ist ja nachvollziehbar, dass es geschehen ist. Aber warum musste ausgerechnet sie es sein, die es getan hat? Als sie die Schere ins Bein gerammt bekam, dass das Blut spritzte, hat sie mir aber doch leidgetan. Immerhin ist sie meine kleine Cousine.«
Ich sagte nur: »Es musste wohl so kommen.«
2
Vater erzählte mir, dass sich nach Schwiegermutters Scherenstich die Wunde an Gugus Bein entzündet und sie hohes Fieber bekommen habe. Trotz des Fiebers sei sie mit ihrer Truppe unterwegs gewesen, um Wang Galle festzunehmen.
Eigentlich gehört der Begriff »Festnahme« zum Vokabular der Polizei und ist nicht ganz passend, aber im Grunde handelte es sich doch um eine Festnahme wie bei einem Verbrecher.
Bei Galle zu Hause war alles fest verrammelt, kein Hahn, kein Hund muckste sich. Gugu ließ das Tor aufbrechen und verschaffte sich gewaltsam Zutritt.
»Irgendjemand muss es deiner Tante gesteckt haben«, sagte mein Vater.
Sie humpelte zu den Wangs ins Haus hinein, ging zum Herd und lüftete den Deckel des Wok. Es war noch Reissuppe darin. Sie prüfte die Temperatur mit dem Finger.
»Aha, noch warm!« Gugu ließ ihr eisiges Lachen hören und brüllte: »Chen Nase! Wang Galle! Kommt ihr freiwillig raus? Oder soll ich euch wie Flöhe aus eurem Loch rauspicken?«
Kein Ton. Im Haus hätte man eine Stecknadel fallen hören. Gugu deutete auf den Wandschrank in der Ecke des Raums. Ein paar alte Kleider, sonst nichts. Sie wies ihre Leute an, alles hinauszuwerfen, so dass der Schrankboden sichtbar wurde. Dann griff sie sich ein Nudelholz und hämmerte damit auf den Boden ein. Ein paar Schläge und sie hatte ein Loch hineingehauen.
Sie brüllte wieder: »Kommt raus da, ihr Partisanen! Oder soll ich Wasser einfüllen?«
Zuerst kam die kleine Chen Ohr hervorgekrabbelt. Sie war kalkweiß im Gesicht, wie eine kleine Tempelschamanin. Sie weinte nicht, sondern lachte glucksend. Als Zweiter stieg Chen Nase aus dem Erdloch heraus. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, sein krauses Haar wirr, angezogen war er nur mit einem Schweißhemd, aus dem das Brusthaar hervorlugte. Er sah richtig heruntergekommen aus. Der Riesenkerl von einem Mann fiel plumpsend vor Gugu auf die Knie und schlug in einem Fort mit dem Kopf auf den Boden. Während er unablässig vor ihr Kotau machte, schluchzte er so markerschütternd, dass das ganze Dorf erzitterte.
»Tante, Gugu, meine liebste Gugu, sieh es so: Ich bin das erste Kind, das du auf die Welt gezogen hast! Bitte denk auch daran, dass Galle nur eine halbe Portion ist. Lass Gnade walten! Gib nur ein Zeichen mit deiner teuren Hand und verschone uns! Tante, meine Familie wird es dir in alle Ewigkeit mit Dankbarkeit vergelten, dir deinen Großmut und deine Tugend danken!«
Vater erzählte, dass alle, die dabei gestanden hatten, später berichteten, Gugu habe mit Tränen in den Augen geantwortet: »Chen Nase, mein lieber Nase, diese Angelegenheit hat mit mir persönlich nichts zu tun. Wenn ich zu entscheiden hätte, dann wär’s ja keine Frage. Wenn du meine Hand wolltest: Abhacken würde ich sie für dich! Und ich würde sie dir geben!«
»Tante, lass Gnade walten!«
Die kleine Ohr war ein kluges Persönchen. Sofort machte sie ihren Papa nach und kniete nieder, um vor Gugu Kotau zu machen. Sie wiederholte immer nur den einen Satz:
»Lass Gnade walten! Lass Gnade walten!«
Dann, fuhr mein Vater fort, sei da aber dieses Heer von schaulustigen Gaffern gewesen, allen voran Wuguan. Der habe mit seiner Schmalzstimme noch einen draufgesetzt, als er begonnen habe, das Titellied aus dem Film Tunnelkrieg zu schmettern:
Tunnelkrieg! He! Tunnelkrieg!
Hunderttausend tapfre Soldaten im Hinterhalt.
In der grenzenlosen Ebene
wird Tunnelkrieg geführt.
Die japanischen Teufel werden vertrieben,
damit sie ein für alle Mal ausgemerzt sind.
Und dann habe er ein weiteres Lied aus der Mitte des Films angefügt:
Vergiss die Worte
deines Führers Mao Tse-tung nicht
und bewahre sie in deinem Herzen! «
Gugu wischte sich übers Gesicht und sagte mit versteinerter Miene:
»Es reicht, Nase. Mach schon, und hol Galle da raus!«
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