Montaigne betet den Katalog seiner Unzulänglichkeiten und Fehler genauso herunter, wie er später alles auflistet, was es bei den «Kannibalen» Brasiliens nicht gibt: Bedienstete, Obrigkeit, Verträge und Privateigentum, aber auch Lüge, Armut, Verrat, Neid und Gier. Was für ein Segen, auf all das verzichten zu müssen.
Nicht, dass Montaigne nichts dazulernen wollte. Grundsätzlich schätzte er praktische Kenntnisse und bewunderte alles, was konkret und handfest war. Aber er konnte nicht verhehlen, wie wenig ihn all das interessierte, und wenn man ihn unter Druck setzte, sträubte er sich nur noch mehr. «Da ich bis zur Stunde noch nie einem mir aufgezwungnen und mir Befehle erteilenden Gebieter folgen musste, blieb es meinem Belieben überlassen, wie weit und wie schnell ich voranschreiten wollte.» Diese Bemerkung zeigt, worauf es ihm letztlich ankam: Er wollte sein eigenes Leben leben. Seine Unfähigkeit in praktischen Dingen machte ihn «von Natur wie aus Vorsatz in höchstem Maße frei». «Freiheitsdrang und Müßiggang» zählte er zu seinen wichtigsten Charaktereigenschaften.
Er wusste, dass er dafür einen Preis zu zahlen hatte: Seine Ahnungslosigkeit wurde oft ausgenutzt. Doch es erschien ihm besser, gelegentlich Geld zu verlieren, als seine Zeit damit zu verbringen, sich über jeden Pfennig Rechenschaft abzulegen und seine Bediensteten auf Schritt und Tritt zu überwachen. Schließlich, so sagte er, würden auch diejenigen übers Ohr gehauen, die verhindern wollen, betrogen zu werden. Als Paradebeispiel diente ihm sein Nachbar, der mächtige Germain-Gaston de Foix, Marquis de Trans, der sich im Alter zum knauserigen Haustyrannen entwickelte. Seine Angehörigen und Bediensteten ließen ihn toben, «und dieweil er selber sich an der Sparsamkeit und Spärlichkeit seiner Tafel erbaut, geben sie sich in den verschiedensten Schlupfwinkeln seines Anwesens alle einem Leben in Saus und Braus hin, den Spielen und der Verschwendung frönend; besonders ergötzt man sich dabei an den Geschichten über seine wirkungslosen Vorkehrungen und Wutausbrüche». Und doch, fügt Montaigne hinzu, spielte das keine Rolle, da der Greis überzeugt war, die Zügel straff zu führen, und dabei nicht glücklicher hätte sein können.
«Nichts setzt mir derart zu wie Mühen und Sorgen», schrieb Montaigne, «und nichts anderes erstrebe ich deshalb, als mich gegen sie zu feien und unbekümmert dahinzuleben.» Man kann sich gut vorstellen, wie Pascals Blutdruck beim Lesen dieser Zeilen nach oben schnellt. Was Montaigne nach eigenem Bekunden für sein Alter am meisten ersehnte, war ein Schwiegersohn, der ihm die Last der Verantwortung abnahm. Wäre er jedoch von einem Außenstehenden bevormundet und herablassend behandelt worden, hätte sein Unabhängigkeitssinn wohl dagegen aufbegehrt. Der Bemerkung über den Schwiegersohn folgen denn auch bald eine Reihe gegenteiliger Bekundungen:
Ich meide es, mich irgendwelchen Bindungen zu unterwerfen.
Ich versuche, keines Menschen dringend zu bedürfen […]. Welch erbärmliches und bedrohliches Los, von jemand anderm abhängig zu sein!
Ich habe einen tödlichen Hass darauf, mittel- oder unmittelbar anderen als mir selber verpflichtet zu sein.
Bei diesen Zeilen dachte er jedoch nicht an die Bewirtschaftung seiner Güter, sondern an den französischen König Heinrich IV., der Montaigne gern in seinen Diensten gehabt hätte. Diesem Ansinnen widerstand Montaigne mit einer an Unverschämtheit grenzenden Entschiedenheit, die seiner Haltung gegenüber den Anforderungen entsprach, die zu Hause an ihn gestellt wurden. Faulheit war aber nur die eine Hälfte seiner Selbstbeschreibung. Als Idealbild schwebte ihm Hippias von Elis vor, ein griechischer Sophist aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., der sich in Selbstgenügsamkeit übte, sich beibrachte, zu kochen, sich zu rasieren, seine Kleidung und seine Schuhe und überhaupt alles, was er zum Leben brauchte, selbst anzufertigen. Eine glänzende Idee, wie Montaigne fand. Dennoch: Ein selbstgenügsamer Montaigne, der sein Wams mit Nadel und Faden näht, seinen Garten umgräbt, Brot backt und das Leder für seine Stiefel selbst gerbt, ist schwer vorstellbar — und war es wohl auch für ihn selbst.
Wie üblich verharrte er in einem Schwebezustand zwischen Aufbegehren und Kompromissbereitschaft. Wenn ihn die Demonstration seiner Unfähigkeit nicht von der Verantwortung entbinden konnte, knickte er ein und tat, was man von ihm verlangte, wahrscheinlich sogar akribischer, als er zuzugeben bereit war.
Nietzsche sprach von freien Geistern, «Freigesinnten», die «mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten, so zu leben, dass eine große Verwandlung der äußeren Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft». So jemand, fügte er hinzu, «wird vorsichtig und etwas kurzatmig sein». Das klingt so sehr nach Montaignes Arrangement auf seinem Anwesen, dass man sich fast fragt, ob Nietzsche nicht an ihn dachte, insbesondere da er hinzufügt, ein solcher Mensch müsse «darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten».
Montaigne war der Erste, der diesen schweren Vorwurf gegen sich selbst erhob. Andere betrachteten es als Aufforderung, die Beschuldigung zu wiederholen, allerdings harsch und ohne Montaignes oder Nietzsches Sinn für Ironie. Doch weder in seinen Schriften noch in seinem Charakter war Montaigne jemals so strikt. Je mehr er sich bemüht, uns von seiner Kälte und Distanziertheit zu überzeugen, desto mehr treten uns andere Bilder vor Augen: Montaigne, wie er im Parlament von Bordeaux aufspringt und sich an einer Debatte beteiligt; Montaigne in leidenschaftlichem Gespräch mit La Boétie oder sogar, wie er mit Frau und Tochter am Kamin sitzt und um ein paar Pfennige Karten spielt. Manchmal sind seine Antworten auf die Frage, wie man leben soll, tatsächlich kühl und unerbittlich: Kümmere dich nur um deine eigenen Sachen; bewahre dir ein Gefühl für dich selbst; gehe Problemen aus dem Weg und habe ein Hinterzimmer in deinem Geschäft. Aber es gibt einen anderen Montaigne, der fast das genaue Gegenteil ist. Es ist …
9
Frage: Wie soll ich leben?
Antwort: Sei gesellig! Lebe mit anderen!
Eine fröhliche und gesellige Weisheit
«Es gibt ungesellige, nach innen gewandte und verschlossne Naturen», schreibt Montaigne. Er selbst gehört nicht dazu.
Mein wesentlicher Charakterzug […] ist die Neigung, mich mitzuteilen und zu offenbaren: Zu Geselligkeit und Freundschaft geborn, bin ich vor aller Augen ganz nach außen gewandt.
Er mischte sich gern unter Leute. Der Austausch im Gespräch bereitete ihm mehr Vergnügen als alles andere. Er war ihm so wichtig, dass er lieber sein Augenlicht verloren hätte als sein Gehör oder seine Fähigkeit zu sprechen, denn Gespräche waren für ihn besser als Bücher — und sie mussten nicht immer ernst sein. Am liebsten mochte er «die plötzlichen Einfälle und pointierten Wechselreden […], wie sie sich im vertrauten und heitren Umgang zwischen Freunden immer wieder ergeben. Einander ausgelassen necken und narren ist eine Kurzweil, zu der ich dank meines natürlichen Frohsinns recht geeignet bin.» Jedes Gespräch war gut, solange es offen und wohlwollend verlief. Sozialen Umgang dieser Art sollte man Kindern schon von klein auf beibringen, um sie der Selbstversunkenheit zu entreißen, meinte er. «Aus dem Umgang mit Land und Leuten gewinnt die menschliche Urteilskraft einen ungemeinen Klarblick. Wir sind alle in uns selbst eingezwängt und hineingekrümmt, und unser Blick reicht nicht weiter als bis zur Nasenspitze.»
Montaigne liebte die offene Diskussion. «Keine Behauptung bringt mich aus der Fassung, und kein Glaube verletzt mich, sosehr er dem meinen zuwiderlaufen mag.» Es gefiel ihm, wenn man ihm widersprach, weil dadurch die Debatte belebt und er zum Nachdenken angeregt wurde. Montaigne liebte also den Austausch mit anderen, ganz anders als Descartes, der sich zum Nachdenken zurückzog und ins Feuer starrte. Montaignes Freund Florimond de Raemond beschrieb die Gespräche mit ihm als «sehr freundlich und äußerst kultiviert». Doch wenn Montaigne sich von einem Thema packen ließ, konnte er sehr laut werden. Er ließ sich dann zu taktlosen Äußerungen hinreißen und ermutigte andere, dasselbe zu tun. Frei heraus zu sagen, was man dachte, war in seinem Haus ungeschriebenes Gesetz. Bei ihm, sagte er, sei es nicht üblich, «den Besuchern beim Empfang entgegenzugehn und sie beim Abschied hinauszubegleiten — solche Förmlichkeiten und all die andren lästigen Höflichkeitsregeln (o diese uns knechtenden Konventionen!) sind bei uns außer Kraft gesetzt». Jeder war frei zu tun, was ihm beliebte, und seine Gäste konnten sich zurückziehen, ohne Anstoß zu erregen.
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