Zu ihrer bunt gemischten Gruppe gehörten große Philosophen wie Pierre Gassendi ebenso wie weniger bedeutende Gelehrte wie François La Mothe le Vayer oder auch Dichter wie Cyrano de Bergerac, der damals für seinen Science-Fiction-Roman einer Reise zum Mond bekannt war. (Seine Rolle in einer sehr viel berühmteren Geschichte aufgrund seiner markanten Nase kam später.) Auch Montaignes erste Herausgeberin, Marie de Gournay, war womöglich insgeheim ein Freigeist wie viele ihrer Freunde. Ein anderer war Jean de La Fontaine, der Verfasser von Fabeln im Stil Plutarchs über die Klugheit und Dummheit der Tiere. Zwar schlug er einen sanften Ton an, aber sie waren dennoch eine Provokation für die Verteidiger der Erhabenheit des Menschen. Wie Montaigne ging auch er davon aus, dass Tiere und Menschen aus demselben Stoff sind.
Der Libertinismus blieb einer Minderheit vorbehalten, die jedoch unverhältnismäßig einflussreich war, weil aus ihren Reihen die Philosophen der Aufklärung hervorgingen. Und sie verhalf Montaigne zu einem zwar gefährlichen, aber dennoch positiven neuen Image, das er nicht mehr loswurde. Mit den Libertins entstand auch eine weit weniger radikale Salongesellschaft, zu der Aphoristiker wie La Bruyère und La Rochefoucauld gehörten, dessen Maximen kurze, montaignehafte Beobachtungen über die menschliche Natur enthielten:
Manchmal ist man von sich ebenso verschieden wie von anderen.
Das sicherste Mittel, betrogen zu werden: sich für klüger zu halten als andere.
Glück und Laune regieren die Welt.
Oft belästigt man andere, gerade wenn man glaubt, sie niemals belästigen zu können.
Wie bei Montaigne selbst drehten sich viele Äußerungen der Libertins und Aphoristiker um die Frage des guten Lebens. Die Libertins betonten den bel esprit , was man mit «gute Laune» übersetzen könnte. Ein Schriftsteller jener Zeit charakterisierte den bel esprit treffender als «fröhlich, geistvoll und voll Feuer wie Montaignes Essais ». Auch die Libertins erstrebten honnêteté , Rechtschaffenheit, also ein moralisch gutes Leben, aber auch «gute Gespräche» und «gute Gesellschaft», wie es im Wörterbuch der Académie Française von 1694 hieß.
Andere wie Pascal wiederum wollten sich durch das Diesseits nicht von den letzten Dingen ablenken lassen. In mystischem Schrecken und Verzücken richtete er den Blick in die unendlichen Weiten des Universums, ähnlich wie Descartes in die glühenden Holzscheite seines Ofens starrte. Hier wie dort herrschte reglose Stille, der Blick war starr, die Augen ehrfürchtig staunend aufgerissen in tiefem Nachsinnen oder auch in Schrecken.
Libertins und die Befürworter des bel esprit starrten nicht. Sie dachten nicht im Traum daran, irgendetwas mit weit aufgerissenen Augen zu fixieren, sei es oben oder unten. Sie beobachteten vielmehr den Menschen unter halb geschlossenen Lidern und sahen ihn, wie er wirklich war — und an erster Stelle beobachteten sie sich selbst. Diese schläfrigen Augen nahmen mehr vom Leben wahr als Descartes mit seinen «klaren und deutlichen Ideen» oder Pascal mit seiner spirituellen Ekstase. Wie Friedrich Nietzsche Jahrhunderte später sagte, wurden zahllose Bemerkungen über menschliches Verhalten und Psychologie — und damit auch über die Philosophie — zuerst in «Kreisen der Gesellschaft entdeckt und ausgesprochen, welche gewohnt waren, einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfer darzubringen».
Für Nietzsche lag darin höchste Ironie, denn er verabscheute die Berufsphilosophen und betrachtete abstrakte Systeme als sinnlos. Ihm kam es auf die kritische Selbstwahrnehmung an: die Fähigkeit, die Beweggründe des eigenen Verhaltens zu erforschen und sich trotzdem so zu akzeptieren, wie man war. Deshalb schätzte er auch die Aphoristiker La Rochefoucauld und La Bruyère sowie deren Ahnherrn Montaigne, den er «diese freieste und kräftigste Seele» nannte. «Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden», fügte er hinzu. Montaigne scheint den Trick herausgehabt zu haben, so zu leben, wie Nietzsche es gern getan hätte: ohne kleinliche Ressentiments, ohne Bedauern und in der Bejahung all dessen, was geschah, ohne das Bedürfnis, es zu ändern. Montaignes beiläufige Bemerkung «Wenn ich noch einmal zu leben hätte, würde ich wieder leben, wie ich gelebt habe», schließt alles ein, wonach Nietzsche sein Leben lang strebte. Montaigne hatte all dies nicht nur erreicht, er hatte sogar darüber geschrieben, und zwar so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Wie Montaigne, so stellte auch Nietzsche alles in Frage und versuchte gleichzeitig, alles zu bejahen. Alles das, was Pascal an Montaigne abstieß — seine bodenlose Tiefe, sein «skeptisches Behagen», seine Gelassenheit, seine Bereitschaft, Unvollkommenheit hinzunehmen —, gefiel dieser diametral entgegengesetzten Traditionslinie, die von den Libertins über Nietzsche bis in unsere Gegenwart verläuft.
Leider gewannen im 17. Jahrhundert die Kritiker Montaignes erneut die Oberhand, als sie sich zu einem regelrechten Feldzug gegen ihn organisierten. 1662 starteten dessen ehemalige Kollegen Pierre Nicole und Antoine Arnauld mit ihrem Bestseller La Logique ou l’art de penser (bekannt unter dem Titel Logique de Port Royal ) einen Angriff gegen Montaigne. In der zweiten Auflage von 1666 riefen sie die katholische Kirche dazu auf, die Essais als eine irreligiöse und gefährliche Schrift auf den Index der verbotenen Bücher zu setzen. Dieser Aufruf wurde zehn Jahre später befolgt, am 28. Januar 1676. Montaigne war damit gebrandmarkt, nicht zuletzt, weil man ihn mit seinen Lesern gleichsetzte, waren doch die Essais inzwischen die Lieblingslektüre einer verrufenen Clique von Gecken, geistreichen Köpfen, Atheisten, Skeptikern und Lebemännern.
Damit begann Montaignes Niedergang in Frankreich. Von der ersten Veröffentlichung der Essais im Jahr 1580 bis zum Jahr 1669 waren immer wieder neue Ausgaben erschienen, dazu populäre Editionen, die die Aufmerksamkeit der Leser auf die explizit pyrrhonischen Passagen lenkten. Nach der Ächtung durch die Kirche war es damit vorbei. Das Werk konnte in katholischen Ländern weder erscheinen noch verkauft werden; kein französischer Verleger durfte einen solchen Schritt wagen. Jahrelang war das Buch nur in zensierten oder ausländischen Ausgaben erhältlich, Letztere oft auf Französisch und dafür gedacht, von einer nonkonformistischen Leserschaft ins Land geschmuggelt zu werden.
Montaigne meinte einmal, dass manche Bücher, «wenn sie verboten sind, umso mehr gekauft und verbreitet werden». In gewisser Weise trifft das auch auf sein eigenes Werk zu. Das Verbot in Frankreich verlieh ihm die Aura des Unwiderstehlichen. Im 18. Jahrhundert lasen ihn besonders die aufrührerischen Philosophen der Aufklärung und politische Revolutionäre.
Letztlich jedoch schadete die Zensur dem Verkauf der Essais mehr, als dass sie ihn beförderte. Sie schränkte die Leserschaft in Frankreich ein, während die Essais in anderen Ländern ein breiteres Publikum erreichten: rebellische Geister ebenso wie die Stützen der Gesellschaft. Die Essais blieben fast zweihundert Jahre auf dem Index, bis zum 27. Mai 1854 — eine Zeit der Verbannung, lange über die ursprünglichen Bedenken des späten 17. Jahrhunderts hinaus.
Pascals Bemerkung, «nicht bei Montaigne, sondern in mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe», könnte als das Mantra der gesamten nachfolgenden Wirkungsgeschichte der Essais betrachtet werden. Die Zeiten ändern sich. Jeder neue Leser entdeckt in den Essais sich selbst und fügt damit dem bisherigen Bild neue Bedeutungsnuancen hinzu. Descartes hatte in den Essais zwei albtraumhafte Figuren seiner eigenen Psyche entdeckt: einen bösen Geist, dem die menschliche Vernunft nichts anhaben kann, und ein Tier, das denken konnte. Beides erfüllte ihn mit Schrecken. Pascal und Malebranche erkannten in den Essais die Gefahr, sich vom skeptischen Behagen verführen zu lassen, und auch sie flohen in panischem Entsetzen.
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