Außer seiner obsessiven Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus verband Pascal wenig mit Descartes. Zutiefst mystisch veranlagt, missfiel ihm Descartes’ Glaube an die Vernunft, und er beklagte den «geometrischen Geist», der seiner Ansicht nach von der Philosophie Besitz ergriffen hatte. Seine Aversion gegen den Rationalismus hätte ihn eigentlich Montaigne näherbringen müssen — was tatsächlich der Fall war, denn die Essais blieben seine ständige Lektüre. Doch die pyrrhonische Tradition, wie sie durch Montaigne vermittelt wurde, empfand auch er als so beunruhigend, dass er kaum eine Seite der «Apologie für Raymond Sebond» lesen konnte, ohne zu seinem Notizbuch zu eilen und über das Gelesene herzuziehen. Pascal wies Montaigne die Rolle eines «großen Widersachers» zu, wie T. S. Eliot die Beziehung zwischen den beiden charakterisierte. Der «große Widersacher» ist ja eigentlich der Teufel, aber diese Charakterisierung ist hier durchaus zutreffend, denn Montaigne war Pascals Peiniger, sein Verführer und Versucher.
Pascal fürchtete den pyrrhonischen Skeptizismus, weil er ihn — anders als die Leser des 16. Jahrhunderts — als eine Bedrohung des Glaubens betrachtete. Inzwischen galt der Zweifel nicht mehr als Verbündeter der Kirche. Er gehörte in das Reich des Teufels und musste bekämpft werden. Und hier lag das Problem, denn es hatte sich gezeigt, dass der pyrrhonische Skeptizismus schwer zu bekämpfen war. Jeder Versuch einer Auseinandersetzung mit ihm untermauerte nur seine Behauptung, alles könne angezweifelt werden. Ein Verzicht wiederum, argumentativ Partei zu ergreifen, bestätigte bloß die Ansicht der Pyrrhoneer, es sei gut, sich des Urteils zu enthalten.
In der Wiedergabe eines Gesprächs mit Isaac Le Maître de Sacy, dem geistlichen Leiter des Klosters Port-Royal, fasst Pascal Montaignes pyrrhonische Argumentation — oder das Fehlen einer solchen Argumentation — folgendermaßen zusammen:
Er setzt alle Dinge einem umfassenden und so allgemeinen Zweifel aus, dass dieser Zweifel sich selbst mit sich reißt, das heißt, er zweifelt, ob er zweifelt, und da er sogar an dieser letzten Voraussetzung zweifelt, dreht sich seine Ungewissheit in einem stetigen und ruhelosen Kreis um sich selbst, wobei er sich gleichermaßen gegen jene wendet, die versichern, alles sei ungewiss, wie gegen jene, die versichern, alles sei nicht ungewiss, weil er nichts als sicher anerkennen will.
Montaigne finde «in diesem allumfassenden Zweifel eine derart vorteilhafte Stellung, dass er sich durch seinen Sieg wie durch seine Niederlage gleichermaßen darin bestärkt». Man spürt geradezu die Frustration: Wie kann man einen solchen Gegner bekämpfen? Und doch muss man ihn besiegen! Es ist eine moralische Pflicht, da sonst der Zweifel wie eine gewaltige Flutwelle alles mit sich fortreißt: die Welt, wie wir sie kennen, die Würde des Menschen, unsere geistige Gesundheit und unseren Sinn für Gott. T. S. Eliot schreibt:
Montaigne zählt zu den Autoren, die nur sehr schwer angreifbar sind. Es ist, als würde man versuchen wollen, einen Nebel durch Handgranaten zu zerstreuen. Denn Montaigne ist Nebel, Gas, Flüssigkeit, ein heimtückisches Element. Er argumentiert nicht, er schmeichelt sich ein, bezaubert und überredet, und wenn er argumentiert, muss man aufpassen, dass er nicht einen ganz anderen Plan damit verfolgt.
Weil Pascal Montaigne nicht besiegen konnte, konnte er nicht aufhören, ihn zu lesen — und über ihn zu schreiben. Er führte einen Kampf, der ihn daran hinderte, zu einem Befreiungsschlag auszuholen. Wenn La Boétie als unsichtbarer Freund hinter Montaignes Essais stand, so stand Montaigne als stets präsenter Feind und Coautor hinter Pascal. Gleichzeitig wusste Pascal, dass das eigentliche Drama in seinem eigenen Innern stattfand. «Nicht bei Montaigne, sondern in mir selbst finde ich alles, was ich dort sehe», räumte er ein.
Er hätte genauso gut in seine Notizen schauen und sagen können: «Nicht in mir selbst, sondern bei Montaigne finde ich alles, was ich dort sehe.» Er übernahm nämlich Unmengen von Material nahezu wörtlich aus den Essais .
Montaigne: Wie wir über ein und denselben Gegenstand lachen und weinen.
Pascal: Daher kommt es, dass man über ein und dieselbe Sache weint und lacht.
Montaigne: [Sie] streben über sich hinaus und suchen ihrem Menschsein zu entrinnen. Das ist Torheit: Statt sich in Engel zu verwandeln, verwandeln sie sich in Tiere.
Pascal: Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will, dass derjenige, der ihn zum Engel machen möchte, ihn zum Tier macht.
Montaigne: Man setze einen Philosophen in einen Käfig aus dünnem, weitmaschigem Drahtgeflecht und hänge ihn darin ganz oben an einen der Türme von Notre-Dame zu Paris: Sein Verstand wird ihm sagen, dass er offensichtlich nicht herausfallen kann; dennoch dürfte auch ihn (es sei denn, er gehe der Dachdeckerei nach) der Blick aus dieser schwindelnden Höhe vor Schreck erstarren lassen […]. Oder man lege zwischen die beiden Türme von Notre-Dame einen Balken von genügender Breite, um bequem darauf zu gehen — es gibt trotzdem keine philosophische Weisheit, die derart gefestigt wäre, dass sie uns ermutigen könnte, ihn so zu betreten, wie wir es täten, wenn er auf dem Boden läge.
Pascal: Bei dem größten Philosophen der Welt, der auf einem Brett steht, das breiter als notwendig ist, wird, wenn unter ihm ein Abgrund liegt, seine Einbildungskraft die Oberhand gewinnen, auch wenn seine Vernunft ihm seine Sicherheit garantiert.
In The Western Canon nennt Harold Bloom die Pensées einen «schwerwiegenden Fall von Verdauungsstörung». Doch wenn Pascal von Montaigne abschrieb, so veränderte er ihn dabei. Selbst da, wo er Montaigne wörtlich übernimmt, rückt er ihn in ein anderes Licht. Wie Jorge Luis Borges’ Pierre Menard, der im 20. Jahrhundert einen Roman schreibt, der zufällig mit dem Don Quijote identisch ist, so schreibt Pascal dieselben Worte in einem anderen Jahrhundert und mit einem anderen Temperament und erschafft damit etwas Neues.
Dieser Unterschied in der emotionalen Grundstimmung ist entscheidend. Montaigne und Pascal hatten ein ähnliches Verständnis von den weniger schmeichelhaften Seiten der menschlichen Natur, vom «Menschlichen, Allzumenschlichen», wo Selbstsucht, Trägheit, Kleinlichkeit, Eitelkeit und zahllose andere Schwächen zu finden sind. All das betrachtet Montaigne mit Nachsicht und Humor; für Pascal dagegen war es ein Horror und schlimmer als alles, was Descartes aufzubieten hatte.
Für Pascal war Fehlbarkeit an sich unerträglich: «Wir haben eine so große Vorstellung von der Seele des Menschen, dass wir es nicht ertragen können, von einer Seele verachtet und nicht von ihr geschätzt zu werden. Und das ganze Glück der Menschen besteht in dieser Wertschätzung.» Für Montaigne waren menschliche Fehler nicht nur erträglich, sie waren beinahe ein Grund zum Jubeln. Pascal wollte keine Beschränktheit hinnehmen, Montaignes ganze Philosophie drehte sich um das Gegenteil. Selbst wenn Montaigne schreibt: «Mir scheint, wir könnten […] nie genug verachtet werden» — was bei Pascal ständig zu lesen ist —, klingt es heiter. Und er fügt noch hinzu, wir seien in den meisten Fällen ebenso dumm wie niederträchtig.
Pascal fällt von einem Extrem ins andere. Er kennt nur tiefe Verzweiflung oder überschäumende Euphorie. Seine Schriften können so aufregend sein wie eine Verfolgungsjagd. Er düst mit uns durch unendliche Räume und Dimensionen. Er denkt über die Leere des Weltalls und die Bedeutungslosigkeit seines eigenen Körpers nach und bemerkt: «Wer sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken.» Descartes lüftete die warme Decke der Pyrrhoneer — den universellen Zweifel — und entdeckte Ungeheuer darunter. Pascal tut dasselbe mit einer bevorzugten Technik der Stoiker und Epikureer: der imaginären Reise durch den Raum und dem Gedanken der Bedeutungslosigkeit des Menschen. Dieser Idee folgt er bis an einen Ort des Schreckens:
Читать дальше