Indessen war diese Bekehrung von meinem Wahn, diese Auflösung meiner Persönlichkeit keineswegs nur ein angenehmes und amüsantes Abenteuer, sie war im Gegenteil oft bitter schmerzhaft, oft nahzu unerträglich. Das Grammophon klang oft wahrhaft teuflisch inmitten dieser Umgebung, wo alles auf so andre Töne gestimmt war. Und manchmal, wenn ich in irgendeinem Moderestaurant zwischen allen den eleganten Lebemann- und Hochstaplerfiguren meine Onesteps tanzte, kam ich mir wie ein Verräter an allem vor, was mir je im Leben ehrwürdig und heilig gewesen war. Hätte Hermine mich nur acht Tage allein gelassen, so wäre ich diesen mühsamen und lächerlichen Lebemannsversuchen alsbald wieder entflohen. Aber Hermine war immer da; obwohl ich sie nicht jeden Tag sah, war ich doch stets von ihr gesehen, geleitet, bewacht, begutachtet – auch alle meine wütenden Auflehnungs- und Fluchtgedanken las sie mir lächelnd vom Gesicht.
Mit der fortschreitenden Zerstörung dessen, was ich früher meine Persönlichkeit genannt hatte, begann ich auch zu verstehen, warum ich trotz aller Verzweiflung den Tod so entsetzlich hatte fürchten müssen, und begann zu merken, daß auch diese scheußliche und schmähliche Todesfurcht ein Stück meiner alten, bürgerlichen, verlogenen Existenz war. Dieser bisherige Herr Haller, der begabte Autor, der Kenner Mozarts und Goethes, der Verfasser lesenswerter Betrachtungen über die Metaphysik der Kunst, über Genie und Tragik, über Menschlichkeit, der melancholische Einsiedler in seiner mit Büchern überfüllten Klause, wurde Zug für Zug der Selbstkritik ausgeliefert und bewährte sich nirgends. Dieser begabte und interessante Herr Haller hatte zwar Vernunft und Menschlichkeit gepredigt und gegen die Roheit des Krieges protestiert, er hatte sich aber während des Krieges nicht an die Wand stellen und erschießen lassen, wie es die eigentliche Konsequenz seines Denkens gewesen wäre, sondern hatte irgendeine Anpassung gefunden, eine äußerst anständige und edle natürlich, aber doch eben einen Kompromiß. Er war ferner ein Gegner der Macht und Ausbeutung, aber er hatte auf der Bank mehrere Wertpapiere von industriellen Unternehmungen liegen, deren Zinsen er ohne alle Gewissensbisse verzehrte. Und so stand es mit allem. Harry Haller hatte sich zwar wundervoll als Idealist und Weltverächter, als wehmütiger Einsiedler und als grollender Prophet verkleidet, im Grunde aber war er ein Bourgeois, fand ein Leben wie das Hermines verwerflich, ärgerte sich über die im Restaurant vertanen Nächte, über die ebendort vergeudeten Taler, hatte ein schlechtes Gewissen und sehnte sich keineswegs nach seiner Befreiung und Vollendung, sondern sehnte sich im Gegenteil heftig zurück in die bequemen Zeiten, als seine geistigen Spielereien ihm noch Spaß gemacht und Ruhm eingebracht hatten. Genau so sehnten sich die von ihm verachteten und verhöhnten Zeitungsleser nach der idealen Zeit vor dem Kriege zurück, weil das bequemer war, als aus dem Erlittenen zu lernen. Pfui Teufel, er war zum Erbrechen, dieser Herr Haller! Und dennoch klammerte ich mich an ihn oder an seine schon sich auflösende Larve, an sein Kokettieren mit dem Geistigen, an seine Bürgerfurcht vor dem Ungeordneten und Zufälligen (wozu auch der Tod gehörte) und verglich den werdenden neuen Harry, diesen etwas schüchternen und komischen Dilettanten der Tanzsäle, höhnisch und voll Neid mit jenem einstigen, verlogen-idealen Harrybild, an welchem er inzwischen alle fatalen Züge entdeckt hatte, die ihn damals an des Professors Goethe-Radierung so sehr gestört hatten. Er selbst, der alte Harry, war genau solch ein bürgerlich idealisierter Goethe gewesen, so ein Geistesheld mit allzu edlem Blick, von Erhabenheit, Geist und Menschlichkeit strahlend wie von Brillantine und beinahe über den eigenen Seelenadel gerührt! Teufel, dies holde Bild hatte nun allerdings arge Löcher bekommen, kläglich war der ideale Herr Haller demontiert worden. Wie ein von Straßenräubern geplünderter Würdenträger in zerfetzten Hosen sah er aus, der klug daran getan hätte, jetzt die Rolle des Abgerissenen zu lernen, der aber sein Lumpen trug, als hingen noch Orden dran, und die verlorene Würde weinerlich weiter prätendierte.
Immer wieder traf ich mit dem Musikanten Pablo zusammen, und mein Urteil über ihn mußte schon darum revidiert werden, weil Hermine ihn so gern hatte und seine Gesellschaft eifrig suchte. Ich hatte Pablo in meinem Gedächtnis als eine hübsche Null verzeichnet, einen kleinen, etwas eitlen Beau, ein vergnügtes und problemloses Kind, das mit Freude in seine Jahrmarktstrompete faucht und mit Lob und Schokolade leicht zu regieren ist. Aber Pablo fragte nicht nach meinen Urteilen, sie waren ihm ebenso gleichgültig wie meine musikalischen Theorien. Höflich und freundlich hörte er mich an immerzu lächelnd, gab jedoch nie eine wirkliche Antwort. Dagegen schien ich trotzdem sein Interesse erregt zu haben, er gab sich sichtlich Mühe, mir zu gefallen und mir Wohlwollen zu zeigen. Als ich bei einem dieser ergebnislosen Gespräche einmal gereizt und beinahe grob wurde, sah er mir bestürzt und traurig ins Gesicht, nahm meine linke Hand und streichelte sie, und bot mir aus einer kleinen vergoldeten Dose etwas zum Schnupfen an, das werde mir gut tun. Ich fragte Hermine mit einem Blick, sie nickte ja, und ich nahm und schnupfte. In der Tat wurde ich in kurzem frischer und munterer, wahrscheinlich war etwas Kokain in dem Pulver gewesen. Hermine erzählte mir, daß Pablo viele solche Mittel habe, die er auf geheimen Wegen erhalte, die er zuweilen Freunden vorsetze und in deren Mischung und Dosierung er ein Meister sei: Mittel zum Betäuben von Schmerzen, zum Schlafen, zur Erzeugung schöner Träume, zum Lustigmachen, zum Verliebtmachen.
Einmal traf ich ihn auf der Straße, am Kai, und er schloß sich mir ohne weiteres an. Diesmal gelang es mir endlich, ihn zum Sprechen zu bringen.
»Herr Pablo«, sagte ich zu ihm, der mit einem dünnen schwarz und silbernen Stöckchen spielte, »Sie sind ein Freund von Hermine, dies ist der Grund, weshalb ich mich für Sie interessiere. Aber Sie machen mir, das muß ich sagen, die Unterhaltung nicht eben leicht. Ich habe mehrmals den Versuch gemacht, mit Ihnen über Musik zu sprechen – es hätte mich interessiert, Ihre Meinung, Ihren Widerspruch, Ihr Urteil zu hören; aber Sie haben es verschmäht, mir auch nur die geringste Antwort zu geben.«
Er lachte mich herzlich an und blieb diesmal die Antwort nicht schuldig, sondern sagte gleichmütig: »Sehen Sie, es hat nach meiner Meinung gar keinen Wert, über Musik zu sprechen. Ich spreche niemals über Musik. Was hätte ich Ihnen denn auch antworten sollen auf Ihre klugen und richtigen Worte? Sie hatten ja so recht mit allem, was Sie sagten. Aber sehen Sie, ich bin Musikant, nicht Gelehrter, und ich glaube nicht, daß in der Musik das Rechthaben den geringsten Wert hat. Es kommt ja in der Musik nicht darauf an, daß man recht hat, daß man Geschmack und Bildung hat und all das.«
»Nun ja. Aber auf was denn kommt es an?«
»Darauf, daß man musiziert, Herr Haller, daß man so gut und so viel und so intensiv wie möglich musiziert! Das ist es, Monsieur. Wenn ich sämtliche Werke von Bach und Haydn im Kopf habe und die gescheitesten Sachen darüber sagen kann, so ist damit noch keinem Menschen gedient. Wenn ich aber mein Blaserohr nehme und einen zügigen Shimmy spiele, so mag der Shimmy gut sein oder schlecht, er wird doch den Leuten Freude machen, er fährt ihnen in die Beine und ins Blut. Darauf allein kommt es an. Sehen Sie einmal in einem Ballsaal die Gesichter an in dem Augenblick, wo nach einer längeren Pause die Musik wieder loslegt – wie da die Augen blitzen, die Beine zucken, die Gesichter zu lachen anfangen! Das ist es, wofür man musiziert.«
»Sehr gut, Herr Pablo. Aber es gibt nicht bloß sinnliche Musik, es gibt auch geistige. Es gibt nicht bloß die, die im Augenblick gerade gespielt wird, sondern auch unsterbliche, die weiterlebt, auch wenn sie nicht gerade gespielt wird. Es kann jemand allein in seinem Bett liegen und in seinen Gedanken eine Melodie aus der Zauberflöte oder aus der Matthäuspassion erwecken, dann findet Musik statt, ohne daß ein einziger Mensch in eine Flöte bläst oder eine Geige streicht.«
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