Erich Maria Remarque - Die Nacht von Lissabon
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„Wo ist er jetzt?" fragte ich.
„Ist er nicht in Lissabon?"
Ich wußte es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.
„Es war merkwürdig, als ich den Paß hatte", sagte Schwarz II. „Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Elysees und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; — mit scharfer Stimme: „Schwarz!", um sofort aufzuspringen und zu antworten: „Das bin ich!" —, oder ich schnarrte, „Name!" um sofort automatisch daherzuleiern: „Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898." Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Paß oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.
Ich verkaufte die beiden Ingres-Zeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.
Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Paß nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte..."
Schwarz sah mich an. „Sie kennen das ja sicher! Den Emigranten-Koller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde gestampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!
Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie früher zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissaros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum — aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr — sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern — an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen grünen Kirchtürme — und an meine Frau.
Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man so zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt — eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, daß Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermißten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern. Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzuklagen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland mußte siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuß umgelegt werden, wenn ich Glück hatte? Der Paß, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, daß ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller: ich hörte sie vom Hinterhof des Holeis um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Cafe de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte — bleich, mit trostlosen Augen — und dann wegglitt. Es war so deutlich, daß ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.
Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: daß sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich — es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn — und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlußlichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.
Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. „Finden Sie eine Frau", sagte er.
Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper — das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören — aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen läßt mit dem schalen Geschmack, daß man sich mißbraucht hat?
Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich mußte zurück. Ich mußte meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, daß sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich mußte sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.
Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, daß Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg mußte kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich mußte mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wußte ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrükte tun.
Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkündeten für jeden, der sie lesen konnte.
Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Paß auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.
Der Mann sah den Paß an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, daß er den Himmel und die Freiheit abschlösse — als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Paß zurück.
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