Nicht» verklärte Historie «oder» freundliche Fabel «bietet dieser Roman, sondern ein» wahres Gleichnis«: Heinrich Mann sieht die vergangene Zeit im Licht seiner eigenen, modernen Erfahrung. So lebt die scheinbar bereits veraltete Gattung des historischen Romans, den die deutsche Exilliteratur nicht zufällig zum bevorzugten Instrument ihrer politischen Kritik machte, einzig aus der Gegenwartsbezogenheit. Die Spannungslosigkeit des traditionellen Geschichtsromans, worin ein allwissender Erzähler bereits bekannte Ereignisse chronologisch berichtet, wird hier durch ein Erzählen aus verschiedenen Perspektiven, durch eingeschobene kritische Kommentare, Vor- und Rückverweise sowie Anreden des Erzählers an seine Figuren und an den Leser vermieden. Häufig geht die erzählende Prosa in dramatische Dialoge über. Ferner liebt es Heinrich Mann, durch den abrupten Wechsel von neutraler Beschreibung und grotesker Überzeichnung epische Verfremdungseffekte zu erzeugen. Das Problem einer Synthese von Geist und Tat, das Heinrich Manns episches und essayistisches Werk durchzieht, fand in der Gestalt des guten Königs Henrie eine modellartige Lösung.
R.Ra.-KLL
Roland Rall/KLL
AUSGABEN: Amsterdam 1935 (Die Jugend des Königs Henri Quatre). — Kiew 1935. — Moskau 1937–1939 (Die Vollendung des Königs Henri Quatre) (in Internationale Literatur, 7, 1937, H. 1–9, 1939, H. 4). — Kiew 1938. — Amsterdam 1938. — Bln. 1951 u. 1956 (in AW in Einzelausg., Hg. A. Kantorowicz, 13 Bde., 1951–1962, 6 u. 7). — Hbg. 41964 (Die Jugend. ., in GW in Einzelausg., 18 Bde., 1958 ff., 2). — Hbg. 31962 (Die Vollendung. ., ebd., 3). — Bln./Weimar 1970 (in GW, 25 Bde., 1965 ff., 11/12). — Düsseldorf 1976 (in Werkausw., 10 Bde., 5). — Düsseldorf 1985 (Die Vollendung. .). — Reinbek 1987, 2 Bde. (rororo).
LITERATUR: A. Kantorowicz, H. M.s Henri-Quatre-Romane (in SuF, 3, 1951, H. 5, S. 31–42). — G. Lukàcs,»Die Jugend des Königs Henri Quatre«(in G. L., Der historische Roman, Bln. 1955). — E. Kirsch, H. M.s Roman» Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre«(in WZHalle, 5, 1955/56, S. 623–636; 1161–1205). — H. Kirchner-Klemperer, H. M.s Roman» Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre «im Verhältnis zu seinen Quellen u. Vorlagen, Diss. Bln. 1957. — H. Mayer, H. M.s» Henri Quatre«(in H. M., Deutsche Literatur und Weltliteratur, Bln. 1957, S. 682–689). — U. Weisstein, H. M., Montaigne and Henri Quatre, (in RLC, 36, 1962, S. 71–83). — G. Hünert, Zu H. M.
»Henri Quatre«. Ein Bericht (in Colloquia Germanica, 1971, S. 299–312). — G. Müller, Geschichte, Utopie u. Wirklichkeit. Vorstudie zu H. M.s »Henri-Quatre-Roman« (in OL, 26, 1971, S. 94–121). — I. Grieninger, H. M.s Roman »Die Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre«. Eine Strukturanalyse, Diss. Tübingen 1971. — E. Blattmann, Henri Quatre Salvator. Studien u. Quellen zu H. M.s »Henri Quatre«, 2 Bde., Freiburg i. B. 1972. — G. Köpf, Humanität u. Vernunft. Eine Studie zu H. M.s Roman» Henri Quatre«, Bern/Ffm. 1975. — U. Stadler, Von der Exemplarursache zur Dialektik. Über den Gleichnischarakter von H. M.s »Henri Quatre«-Romanen (in Literaturwiss. u. Geschichtsphilosophie. Fs. für Wilhelm Emrich, Hg. H. Arntzen u. a., Bln./NY 1975, S. 539–560). — W. Jöckel, H. M.s »Henri Quatre« als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Worms 1977. — M. Hahn, »Wahres Gleichnis«. H. M. »Die Jugend des Königs Henri Quatre« u. »Die Vollendung des Königs Henri Quatre« (in Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933–1945. Analysen, Hg. S. Bock u. M. Hahn, Bln./Weimar 1979, S. 169–192). — K. P. Broszinsky, Roman u. Hörspiel. Adaption u. Adaptionsregularitäten, anhand der »Henri Quatre«-Romane H. M.s u. ihrer Hörspielbearbeitung, Diss. Greifswald 1980. — H. Müller, Problem des historischen Romans. Zu H. M.s »Henri Quatre«-Romanen (in Textsorten u. literarische Gattungen, 1983, S. 577–590). — A. Zweig, H. M.s Meisterwerk (»Henri Quatre«) [1935] (in A. Z., Essays, Bd. 1, 1987, S. 290–295).
Quelle:
Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag GmbH
Ende eBook: H. Mann — Die Jugend des Königs Henri Quatre
149. -158. Tausend Juli 1994
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 1964
mit freundlicher Genehmigung des Claassen Verlages, Düsseldorf
Copyright © 1956 by Aufbau-Verlag, Berlin
Für die deutsche Übersetzung der Moralités
Copyright © 1956 by Aufbau-Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung Barbara Hanke Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 1990-ISBN 3 499 13487 X
Henri III war nicht der Bruder von Henri IV! (Anm. d. eBookers)
So lernte der junge Henri vor der Zeit die Bosheit der Menschen kennen. Er hatte schon etwas davon geahnt nach so vielen wirren Eindrücken seines zarten Alters, das eine ununterbrochene Kette dunkler unvorhergesehener Ereignisse war. Aber als er seinen munteren Fluch «Ventre Saint-Gris»* herausschmetterte — und das gar in dem Augenblicke, da ihm die ganze furchtbare Gefahr des Lebens unverhüllt vor Augen trat —, gab er damit dem Schicksal zu verstehen, daß er die Herausforderung annahm und daß er für alle Zeit sich seinen frühen Mut und seine angeborene heitere Laune bewahren werde.
An jenem Tage entwuchs er der Kindheit.
* Ein von Henri Quatre erfundener und nur von ihm selbst verwendeter und mit ihm in die Geschichte eingegangener Stoßseufzer. Die wörtliche Übersetzung «Heiliger Graubauch» besagt so gut wie nichts. Ein deutsches Äquivalent wäre vielleicht «Heiliger Strohsack».
Aus dem Französischen übersetzt von Helmut Bartuschek
Seht, wie dieser junge Prinz sich schon auseinandersetzt mit den Gefahren des Lebens, die darin bestehen, daß man getötet wird oder verraten wird, die aber auch unter unseren Wünschen und sogar unter unseren großmütigen Träumen versteckt liegen. Wahrhaftig, es geht spielend durch alle Bedrohungen hindurch, ganz wie es dem Vorrecht seines Alters entspricht. Verliebt, wie er alle Naselang ist, weiß er noch nicht, daß einzig die Liebe ihn eine Freiheit verlieren läßt, die ihm der Haß vergebens streitig macht. Denn um ihn zu schützen vor dem Ränkespiel der Menschen und den Fallen, die ihm seine eigene Natur stellte, lebte zu der Zeit noch ein Wesen, das ihn liebte, bis es dafür sein Leben ließ, und dieses Wesen nannte er: «die Königin, meine Mutter».
Sie hätten viel besser daran getan, Henri, umzukehren, solange noch Zeit dazu war. Ihre Schwester sagt Ihnen das, sie, die so verständig ist — und es doch auch nicht immer sein wird. Es ist nur zu klar, daß dieser Hof, den eine böse Fee beherrscht, sich nicht damit begnügen wird, Ihnen «die Königin, Ihre Mutter» getötet zu haben, sondern daß Sie noch teurer Ihren Eigensinn, der Sie zu lange in ihm verweilen ließ, bezahlen müssen und Ihre Lust an allem, was gefährlich ist. Andererseits läßt Sie aber auch dieser Aufenthalt die tiefe Zweideutigkeit des Daseins erkennen, das nur mehr rund um einen gähnenden Abgrund sich abspielt. Das erhöht nur noch den Reiz des Lebens, und Ihre Leidenschaft für Margot, die zu lieben Ihnen die Erinnerung an Jeanne verbietet, bekommt dadurch einen schauerlichen Reiz.
Zu spät, Sie sind wie verzaubert. Die von allen Seiten herandringenden Warnungen richten nichts mehr aus. Die vertraulichen Mitteilungen des Königs, Ihres Schwagers, bleiben ohne Widerhall, und die Unruhezeichen Ihrer Geliebten können Sie nicht beruhigen. Sie geben sich Ihrer Liebe hin, indes die Mörder, vor Furcht wie vor Haß zugleich zitternd, nur der blutigen Nacht entgegensehen. Und schließlich begegnen Sie ihr, dieser Nacht, als wäre sie eine unbekannte Schöne. Und dennoch war ihr schon der Herr Admiral erlegen, fast vor Ihren Augen. Ist es denn nicht so, daß Sie alles wußten, und das seit langem schon, aber daß Sie niemals hatten auf Ihr Gewissen hören wollen? Ihre Blindheit hatte irgendwie Ähnlichkeit mit dem verdächtigen neuen Wahnsinnsanfall Karls des Neunten. Der wählte ihn als Ausflucht. Sie, Ihrerseits, hatten sich dem Offensichtlichsten verschlossen, um sich dadurch Ihr Alibi im voraus zu verschaffen. Wozu wohl, da Sie hernach wie aus den Wolken fallen sollten und um so härter dafür büßen mußten, daß Sie hatten glücklich sein wollen, ohne hinter sich zu schauen.
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