»Das ist Unsinn«, meinte Phidias. »Schließlich hat ein Punkt keine Ausdehnung.«
»Na schön, dann eben kein Punkt! Aber etwas unvergleichlich Kleines, so klein, daß die gesamte Drehbewegung der Erde keinerlei Einfluß auf unser Bild der Fixsterne hat.«
»Du glaubst das, stimmt’s?« fragte Phidias.
»Es ist eine Hypothese«, erwiderte Archimedes und wurde dabei ein wenig rot. »Die Beweise reichen weder für die eine noch für die andere Variante aus. Vermutlich haben die Leute recht, die sagen, daß man sich immer dann, wenn es keine Beweise gibt, für die Erklärung entscheiden sollte, die mit dem Augenschein am ehesten übereinstimmt. Das hieße also, daß sich die Sonne um die Erde dreht. Aber trotzdem - mir gefällt die Hypothese.«
» Oi moi! Dir gefällt der Gedanke, daß die Erde wie eine Staubflocke durch einen unsagbar großen Weltraum wirbelt? Mir wird dabei ganz schwindlig!«
Archimedes grinste, meinte aber: »Es erscheint mir sinnvoll, daß das Universum unvergleichlich groß ist. Denn eines steht fest: Je mehr ich es betrachte, desto mehr Dinge sehe ich, die ich nicht verstehe.«
Phidias lag schon der Satz auf der Zunge: »Wenn bereits du nicht viel verstehst, wieviel Hoffnung bleibt dann für den Rest von uns?«, aber er sprach ihn nicht aus. Er hütete sich, zuzugeben, wie sehr er sich anstrengen mußte, um Ideen, die für Archimedes sonnenklar schienen, auch nur annähernd zu begreifen. Seit jeher hatte ihn sein Sohn als ebenbürtig betrachtet, und darauf war er fast so stolz wie auf seinen Sohn selbst. Sein Sohn, der begabteste Schüler, den er je unterrichtet hatte, der tiefgründigste Geist, dem er je begegnet war. Zärtlich betrachtete ihn Phidias. Allmählich verlor Archimedes sein Lächeln. Seine Augen glänzten zwar noch, aber während er die unendliche Weite des Universums berechnete, bekamen sie einen abwesenden Ausdruck. Phidias wußte, daß sie ihn schon längst nicht mehr wahrnahmen, und einen Augenblick spürte er jenen leisen Schmerz, den alle Eltern empfinden, wenn sie merken, wie absolut fremd ihnen ihr Kind ist. Dieser Körper, der von dir stammt und den du ernährt hast, enthält jetzt einen Verstand voller Ideen, die du nie begreifen wirst. Er beugte sich hinüber und ergriff die Hand seines Sohnes. »Medion«, sagte er ein wenig atemlos, »schwöre mir, daß du nie, niemals die Mathematik aufgeben wirst.«
Verblüfft schaute ihn Archimedes an. »Papa, du weißt doch ganz genau, daß ich die Mathematik als letztes auf der Welt aufgeben würde!«
»Das meinst du«, sagte Phidias, »aber es stimmt nicht. Wenn deine Familie hungert oder leiden muß, das ist wirklich das letzte auf der Welt, was du willst, und das ist gut so, denn es sollte auch das allerletzte sein, was du geschehen läßt. Aber versprich mir, daß du nie die Mathematik aufgeben und deine Seele an die Erde verkaufen wirst, auch wenn du dir die Zeit fürs Studium stehlen und nach der Tagesarbeit mühsam darum ringen mußt. Egal, wie müde du bist und wie wenig dich irgend jemand begreift. Schwör es mir.«
Archimedes zögerte, dann ging er zur Wasserschüssel neben dem Bett, wusch sich feierlich die Hände und hob sie zum Himmel. »Ich schwöre bei Apollon, dem Delier, dem Pythier«, erklärte er ernst, »bei Urania und allen Musen, bei Zeus und der Erde und der Sonne, bei Aphrodite, Hephaistos und Dionysios und bei allen Göttern und Göttinnen, daß ich nie die Mathematik aufgeben werde und den Funken, den mir der Gott geschenkt hat, erlöschen lasse. Wenn ich dieses mein Wort nicht halten sollte, möge mich der heilige Zorn aller Götter und Göttinnen treffen, bei denen ich geschworen habe, und ich des jammervollsten Todes sterben. Aber wenn ich es in Ehren halte, dann mögen sie mir gewogen sein!«
»So sei es«, flüsterte Phidias.
Archimedes trat wieder ans Bett und ergriff mit einem Lächeln die Hand seines Vaters. »Aber diesen Schwur hätte es nicht gebraucht, Papa«, sagte er. »Ich versuche, es aufzugeben, und rede mir ein, >keine Spielereien mehr!< - aber es klappt nie. Ich kann es nicht lassen, und du weißt das.«
Phidias lächelte ebenfalls. »Ich weiß«, flüsterte er, »trotzdem möchte ich, daß du es nicht einmal versuchst. Nicht für Katapulte und auch für sonst nichts.«
Für den Großteil der Stadt war der nächste Tag »der Tag der Rückkehr von König Hieron« - bis auf Archimedes. Für ihn waren der König und seine Armee lediglich eine lästige Unterbrechung des Tages, an dem der »Begrüßer« transportiert wurde.
Nur ein einziger Handwerker - Elymos - assistierte ihm dabei, denn Eudaimon bestand darauf, daß alle übrigen in der Werkstatt blieben, um bei einem anderen Pfeilgeschütz zu helfen. Zum Glück war Straton noch immer für den Transport der Maschine zuständig, und lange vor Tagesende sollte Archimedes über seine Mithilfe sehr froh sein. Das schwere Ochsenfuhrwerk brauchte über zwei Stunden bis zum Hexapylon hinaus, und als sie endlich am Fort angekommen waren, mußten sie feststellen, daß es keinen Kran gab, um den EinTalenter auf die umfriedete Plattform des ausgewählten Turmes hinaufzuhieven.
Die Plattform bildete den ersten Stock eines der vier äußeren Türme des Forts. Normalerweise plazierte man große Katapulte im untersten Turmgeschoß und überließ die oberen Stockwerke den leichteren Geräten. An der Plattform, die zum Innenhof des Forts offenstand, führte eine Steintreppe vorbei, aber drei Mann konnten unmöglich einen neun Meter langen Ladestock die Treppe hinaufmanövrieren. Straton überredete die Garnison des Forts, ihnen ein paar Seile und Flaschenzüge zu leihen, woraus Archimedes Hebewerke baute. Trotzdem war der halbe Nachmittag vorbei, ehe sämtliche Katapultteile auf ihrer Plattform lagen. Und dann mußten sie erst noch zusammengesetzt werden. Währenddessen tauchte König Hieron mit seiner Armee vor den Toren auf. Die gesamte Fortbesatzung rannte hinüber, um dem vorüberreitenden König zuzujubeln, darunter auch Straton, was Archimedes für ziemlich überflüssig hielt. Er baute zwischenzeitlich mühsam seine Hebewerke um, damit der Ladestock des Katapults wieder in die Lafette eingepaßt werden konnte. Insgeheim dachte er wütend, Straton wäre besser dageblieben, um auf Zuruf die Zugrichtung der Seile zu ändern.
Aber kaum war der König weg, meinte Straton, er müsse nun Fuhrwerk und Ochsen wieder auf die Ortygia bringen, und verabschiedete sich ebenfalls. Nun mußten sich Archimedes und Elymos ganz allein abplagen. Als das Katapult endlich komplett an seinem Platz stand, war es bereits dunkel. Inzwischen taumelte Archimedes längst vor Erschöpfung. Die Seile hatten seine Hände derart aufgeschürft, daß er nicht mehr feststellen konnte, welche Blase gerade weh tat. Als die Arbeit beendet war, musterte er erst seine Blasen und dann Elymos, der vielleicht noch mehr Blasen hatte und erschöpfter war als er selbst. »Falls du nicht mehr den ganzen Weg zur Ortygia zurücklaufen willst«, erklärte er dem Sklaven, »kannst du heute nacht bei mir im Haus schlafen.«
»Sehr freundlich von dir, Herr«, sagte Elymos bedrückt, »aber auf Geheiß von Epimeles muß ich heute nacht hier bleiben.«
»Hier?« fragte Archimedes verblüfft, wobei er sich in dem nackten Raum umsah. Das Katapult war zwar zugedeckt, aber niemand käme auf die Idee, diesen Ort als bequem zu bezeichnen. Die Plattform hatte einen ungehobelten Bretterboden und stand zur Hofseite offen. In einer Ecke lagerte ein Haufen Vierzig-Pfund-Geschosse, die Überreste eines früheren Katapults.
»Ist schon in Ordnung«, bestätigte der Sklave kläglich. Auf Befehl von Epimeles durfte er das Katapult nicht aus den Augen lassen und mußte sich darunter einen Schlafplatz bauen.
»Aber - warum?« fragte Archimedes völlig perplex.
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