Er war zum nächsten Ziegellager auf der seewärts gerichteten Seite der Achradina gegangen, um für das Haus ein paar neue Dachziegel zu bestellen, und hatte den jungen Chrestos mitgenommen. Als sie hinkamen, standen die Ziegeleiarbeiter mitten im Dörrhof zusammen und diskutierten angeregt den Sieg. »Hat die Belagerungswälle angegriffen«, hörte Marcus beim Näherkommen und, »hat sie bis zur Stadtmauer zurückgeworfen!« Wortlos blieb er stehen, weil er befürchtete, daß sein italienischer Akzent bissige Bemerkungen zur Folge haben könnte. So blieb es Chrestos überlassen, hinzulaufen und sich nach dem Verlauf der ganzen Geschichte zu erkundigen. Ein hymnischer Bericht über die Weisheit König Hierons und seine tapferen Syrakuser war die Antwort. Marcus hörte aufmerksam zu, gab aber keinen Kommentar ab, denn ihm war genauso klar wie seinem Herrn und Meister, daß bei dieser Erzählung einige wesentliche Teile unter den Tisch gefallen waren. Nach kurzem Nachdenken wurde ihm klar, was es sein könnte. Ihn fröstelte. Trotzdem beschränkte er das Gespräch ausschließlich auf Dachziegel.
Als sie wieder im Haus am Löwenbrunnen waren, wiederholte Chrestos begeistert vor der restlichen Familie den Siegesrapport, der mit großer Erleichterung auf genommen wurde. Eine schreckliche Bedrohung hatte sich aufgelöst. Nur Philyra wurde trotz allem angst und bang. Wenn der König nach Hause kam, brachte er seine restlichen Ingenieure mit, und damit würden die Dienste ihres Bruders überflüssig. Aber eines war noch viel schlimmer: Wenn der Krieg schon zu Ende war, brauchte man kein Katapult mehr, und Archimedes bekäme nichts bezahlt. Als Archimedes kurz danach persönlich zurückkam, bedrängte sie ihn mit Fragen zum Schicksal der Maschine.
»Sie wollen sie«, erklärte er ihr grimmig, »und außerdem wollen sie, daß ich eine zweite anfange, sobald die erste auch wirklich funktioniert.« Daraufhin verstummte seine Schwester, denn nun wurde auch ihr klar, daß die ganze Geschichte einen falschen Unterton hatte.
Der Haushalt aß zu Abend, anschließend wurde im Krankenzimmer ein wenig musiziert. Phidias lauschte aufmerksam, schien aber bald müde zu werden, so daß man das Konzert abbrach. Philyra überließ ihn einem Gespräch mit Archimedes über Astronomie und ging in den Innenhof, um auf ihrer Laute zu üben. Nach einiger Zeit kam Marcus von einem Botengang unten an der Straße zurück. Bei seinem Anblick unterbrach sie ihr Spiel und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Rasch wischte er sich die Hände ab und musterte sie fragend.
»Welche Sorte Italiener bist du?« wollte sie wissen.
Bei dieser Bemerkung erstarrte sein Gesicht zu einer unbeteiligten Maske. »Herrin, das haben wir doch alles längst besprochen.«
»Aber du bist doch versklavt worden, nachdem du auf Seiten der Römer in einem römischen Krieg gekämpft hast, oder?«
Einen Augenblick lang schwieg er, dann wandte er den Blick ab. Er mußte wieder an das Gemetzel denken, an die Schreie der Verwundeten und Sterbenden und an den Gestank seiner eigenen Todesangst. »Ja«, gab er schließlich zu.
»Du hast die Römer kämpfen sehen. Was tun sie, wenn sie eine Stadt erobern?«
»Das gleiche wie alle anderen auch.«
»Ich habe gehört«, sagte Philyra fest, »daß sie manchmal alle Lebewesen innerhalb der Stadtmauer töten, selbst die Tiere.«
»Manchmal tun sie’s«, sagte Marcus zögernd. »Wenn sie ein Gelübde abgelegt haben, aber meistens nicht. Meistens plündern sie nur und errichten dann eine Garnison. Genau wie alle anderen.«
»Barbaren!« sagte Philyra und funkelte Marcus an. »Manchmal sind sie genauso wild, grausam und blutdürstig wie alle anderen und manchmal sogar noch schlimmer. Das meinst du doch damit. Hast du ihnen je bei der Eroberung einer Stadt geholfen?«
Marcus schüttelte protestierend den Kopf. »Herrin, als ich zur Armee kam, war ich nicht älter als du jetzt! Eigentlich muß man achtzehn sein, aber ich habe gelogen. Und als ich zum ersten Mal einen Krieg kennenlernte, bin ich. hier gelandet. Ich weiß über Belagerungen nicht mehr als du.«
Die Empörung in ihren Augen ebbte ein wenig ab, statt dessen schimmerte Angst durch. »Falls die Römer Syrakus erobern, wärst du frei, stimmt’s?«
Wieder schüttelte er den Kopf, aber diesmal verneinend. »Meiner Meinung nach würden sie nicht einmal fragen, was ich früher war. Ein Sklave ist ein Sklave. Ich bekäme einen neuen Herrn oder würde getötet. Aber es ist Unsinn, wenn du dir darüber den Kopf zerbrichst, Herrin, weil sie Syrakus nicht erobern werden. Und außerdem hat die Stadt nach letzten Meldungen einen Sieg errungen.«
Jetzt war sie mit dem Kopfschütteln dran. »Warum kommt der König heim, wenn es wirklich ein Sieg war? Warum werden noch mehr Katapulte gebraucht, wenn es ein echter Sieg war?«
»Wo waren die Karthager während dieses Sieges?« antwortete er heftig. »Sie sollten doch die Verbündeten sein, aber ich habe nicht das geringste gehört, daß sie auch nur im entferntesten an den Kämpfen beteiligt waren.«
Anschließend bedauerte er seine Worte. Er hätte daran denken sollen: Philyra war viel zu intelligent, um die wahre Bedeutung nicht zu verstehen. Jetzt riß sie vor Furcht die Augen auf. Was wäre, wenn sich die Römer bei Messana mit den Karthagern geeinigt hatten? Rom und Karthago waren im Krieg gegen Pyrrhus von Epirus Verbündete gewesen, daher war es durchaus vorstellbar, daß sie sich jetzt auf eine Teilung Siziliens zwischen ihnen beiden geeinigt hatten. Sollte König Hieron den Verdacht hegen, daß sich seine neuen Verbündeten allmählich gegen ihn wandten, dann wäre das die Erklärung, warum er schleunigst seine Armee nach Hause holte. Syrakus konnte Rom nicht ohne die Hilfe Karthagos gegenübertreten. Wenn es Rom und Karthago gegen sich hätte, wäre sein Untergang besiegelt.
»Oh, ihr Götter, nein!« flüsterte Philyra.
Mit wenigen Schritten eilte Marcus über den Hof zu ihr hinüber, blieb aber dann hilflos stehen und wünschte sich sehnlichst, daß er den Mut hätte, ihre schmalen Schultern zu berühren. »Niemand wird Syrakus einnehmen«, erklärte er ihr. »Die Karthager haben’s oft genug versucht und nie geschafft, und eines, Herrin, kann ich dir versichern: Eine Stadt wie diese werden die Römer nicht knacken. In der Belagerungstechnik seid ihr Griechen ihnen weit voraus. Noch nie hat jemand Syrakus im Sturm erobert, und das wird auch jetzt keiner schaffen.« Dann fügte er mit einem bemühten Lächeln hinzu: »Nicht, solange die Katapulte deines Bruders die Stadt verteidigen.«
Philyra holte tief Luft und redete sich ein, daß sie kein kleines Mädchen mehr war, das sich von Gerüchten erschrecken ließ. Danach brachte sie sogar ein Lächeln fertig. Ihr Blick wanderte zur Laute in ihren Händen hinunter. Sie hob sie an die Schulter und begann, ein kompliziertes Stück zu spielen, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte und ihr keine Zeit zum Nachdenken ließ.
Im Krankenzimmer starrte Phidias mit seinen gelblichen Augen die Lampenflamme an, dann schaute er lächelnd zu seinem Sohn hinüber. »Erzähl mir doch noch einmal von der Hypothese des Ari-starchos«, sagte er.
Archimedes zuckte die Schultern. Sein Vater war fasziniert von dieser Theorie, die in Alexandria ein aufregend großes, kontrovers diskutiertes Thema gewesen war. »Er behauptet, daß sich die Erde auf einer Kreisbahn um die Sonne bewegt.«
»Und die anderen Planeten genauso?«
»Richtig.«
»Und was ist mit den Sternen?« fragte Phidias. »Wenn sich die Erde tatsächlich um die Sonne drehen würde, dann würden sich doch auch die Fixsterne verschieben, wenn wir sie von unterschiedlichen Punkten der Erdlaufbahn aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.«
»Nein! Das ist ja gerade der interessanteste Aspekt«, sagte Archimedes. Allmählich erwärmte er sich für dieses Thema. »Aristar-chos behauptet, das Universum sei viel, viel größer als bisher angenommen. Er behauptet, daß der ganze Kreis, den die Erde auf ihrer Umlaufbahn beschreibt, im Vergleich zur Größe der Fixsternsphäre nur ein Punkt sei.«
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