"Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!" sag-te Hans Castorp, während seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des überraschen-den Zimmers hafteten, der es anerkannte, daß die Vettern Wort gehalten hätten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradewegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Hüften gestemmt, mit seitwärts geneigtem Kopf davor stehen.
"Was haben Sie denn da!" sagte er leise. "Das ist ja schreck-lich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn? Etwas Altes, natür-lich?"
"Vierzehntes Jahrhundert", antwortete Naphta. "Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?"
"Enormen", sagte Hans Castorp. "Das kann seinen Eindruck auf den Besucher denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas zugleich so häßlich – entschuldigen Sie – und so schön sein könnte."
"Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks", ver-setzte Naphta, "sind immer häßlich vor Schönheit und schön vor Häßlichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schönheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Übrigens, auch abstrakt ist sie", fügte er hinzu. "Die Schönheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiösen Ausdrucks."
"Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und ange-ordnet", sagte Hans Castorp. "Vierzehntes?" versicherte er sich … "Dreizehnhundertsoundso? Ja, das ist das Mittelalter, wie es im Buche steht, ich erkenne gewissermaßen die Vorstel-lung darin wieder, die ich mir in letzter Zeit vom Mittelalter gemacht habe. Ich wußte eigentlich nichts davon, ich bin ja ein Mann des technischen Fortschritts, soweit ich überhaupt in Fra-ge komme. Aber hier oben ist mir die Vorstellung des Mittelal-ters verschiedentlich nahegebracht worden. Die ökonomistische Gesellschaftslehre gab es damals noch nicht, soviel ist klar. Wie hieß der Künstler denn wohl?"
Naphta zuckte die Achseln.
"Was liegt daran?" sagte er. "Wir sollten danach nicht fragen, da man auch damals, als es entstand, nicht danach fragte. Das hat keinen wunderwie individuellen Monsieur zum Autor, es ist anonym und gemeinsam. Es ist übrigens sehr vorgeschrittenes Mittelalter, Gotik, Signum mortificationis. Sie finden da nichts mehr von der Schonung und Beschönigung, mit der noch die romanische Epoche den Gekreuzigten darstellen zu müssen glaubte, keine Königskrone, keinen majestätischen Triumph über Welt und Martertod. Alles ist radikale Verkündigung des Leidens und der Fleischesschwäche. Erst der gotische Ge-schmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische. Sie werden die Schrift Innonzenz' des Dritten, 'De miseria humanae condi-tionis', nicht kennen, – ein äußerst witziges Stück Literatur. Sie stammt vom Ende des zwölften Jahrhunderts, aber erst diese Kunst liefert die Illustrationen dazu."
"Herr Naphta", sagte Hans Castorp nach einem Aufseufzen, "mich interessiert jedes Wort von dem, was Sie da hervorheben. "Signum mortificationis' sagten Sie? Das werde ich mir merken. Vorher sagten Sie etwas von "anonym und gemeinsam', was auch der Mühe wert scheint, darüber nachzudenken. Sie vermu-ten leider richtig, daß ich die Schrift des Papstes – ich nehme an, daß Innozenz der Dritte ein Papst war – nicht kenne. Habe ich richtig verstanden, daß sie asketisch und witzig ist? Ich muß ge-stehen, ich habe mir nie vorgestellt, daß das so Hand in Hand gehen könnte, aber wenn ich es ins Auge fasse, so leuchtet es mir ein, natürlich, eine Abhandlung über das menschliche Elend bietet zum Witz schon Gelegenheit, auf Kosten des Fleisches, Ist die Schrift denn erhältlich? Wenn ich mein Latein zusammen-nähme, vielleicht könnte ich sie lesen."
"Ich besitze das Buch", antwortete Naphta, mit dem Kopf nach einem der Schränke weisend. "Es steht Ihnen zur Verfügung. Aber wollen wir uns nicht setzen? Sie sehen die Pietà auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl …"
Es war das Dienerchen, das Tee brachte, dazu einen hübschen silberbeschlagenen Korb, worin in Stücke geschnittener Baum-kuchen lag. Hinter ihm aber, durch die offene Tür, wer trat be-schwingten Schrittes mit "Sapperlot!!" "Accidenti!" und feinem Lächeln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Trep-pe höher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesell-schaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gaste zu bitten. Nichts war na-türlicher, als daß er kam. Seine alte Bekanntschaft mit den Berg-hofbewohnern berechtigte ihn dazu, und dann war auch sein Verkehr und Austausch mit Naphta, trotz tiefgehender Meinungsver-schiedenheiten, ja offenbar überhaupt sehr lebhaft, – wie denn der Gastgeber ihn leichthin und ohne Überraschung als Zugehörigen begrüßte. Das hinderte nicht, daß Hans Castorp von seinem Kommen sehr deutlich einen doppelten Eindruck gewann. Erstens, so empfand er, stellte Herr Settembrini sich ein, um ihn und Joachim, oder eigentlich kurzweg ihn, nicht mit dem häßlichen kleinen Naphta allein zu lassen, sondern durch seine Anwesenheit ein pädagogisches Gegengewicht zu schaffen; und zweitens war klar ersichtlich, daß er gar nichts da-gegen hatte, sondern die Gelegenheit recht gern benutzte, den Aufenthalt in seinem Dach auf eine Weile mit dem in Naphtas seidenfeinem Zimmer zu vertauschen und einen wohlservierten Tee einzunehmen: er rieb sich die gelblichen, an der Kleinfin-gerseite des Rückens mit schwarzen Haaren bewachsenen Hän-de, bevor er Zugriff, und speiste mit unverkennbarem, auch lo-bend ausgesprochenem Genuß von dem Baumkuchen, dessen schmale, gebogene Scheiben von Schokoladenadern durchzogen waren.
Das Gespräch fuhr noch fort, sich mit der Pietà zu beschäftigen, da Hans Castorp mit Blick und Wort an dem Gegenstand festhielt, wobei er sich an Herrn Settembrini wandte und diesen gleichsam mit dem Kunstwerk in kritischen Kontakt zu setzen suchte, – während ja der Abscheu des Humanisten gegen diesen Zimmerschmuck deutlich genug in der Miene zu lesen war, mit der er sich danach umwandte: denn er hatte sich mit dem Rük-ken gegen jenen Winkel gesetzt. Zu höflich, um alles zu sagen, was er dachte, beschränkte er sich darauf, Fehlerhaftigkeiten in den Verhältnissen und den Körperformen der Gruppe zu beanstanden, Verstöße gegen die Naturwahrheit, die weit entfernt seien, rührend auf ihn zu wirken, da sie nicht frühzeitlichem Unvermögen, sondern bösem Willen, einem grundfeindlichen Prinzip entsprängen, – worin Naphta ihm boshaft zustimmte. Gewiß, von technischem Ungeschick könne nicht entfernt die Rede sein. Es handle sich um bewußte Emanzipation des Geistes vom Natürlichen, dessen Verächtlichkeit durch die Verweige-rung jeder Demut davor religiös verkündet werde. Als aber Settembrini die Vernachlässigung der Natur und ihres Studiums für menschlich abwegig erklärte und gegen die absurde Form-losigkeit, der das Mittelalter und die ihm nachahmenden Epo-chen gefrönt hätten, das griechisch-römische Erbe, den Klassi-zismus, Form, Schönheit, Vernunft und naturfromme Heiter-keit, die allein die Sache des Menschen zu fördern berufen seien, in prallen Worten zu erheben begann, mischte Hans Castorp sich ein und fragte, was denn aber bei solcher Bewandtnis mit Plotinus los sei, der sich nachweislich seines Körpers ge-schämt, und mit Voltaire, der im Namen der Vernunft gegen das skandalöse Erdbeben von Lissabon revoliert habe? Absurd? Das sei auch absurd gewesen, aber wenn man alles recht überle-ge, so könne man seiner Ansicht nach das Absurde recht wohl als das geistig Ehrenhafte bezeichnen, und die absurde Natur-feindschaft der gotischen Kunst sei am Ende ebenso ehrenhaft gewesen wie das Gebaren der Plotinus und Voltaire, denn es drücke sich dieselbe Emanzipation von Fatum und Faktum darin aus, derselbe unknechtische Stolz, der sich weigere, vor der dummen Macht, nämlich vor der Natur abzudanken …
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