Artur Landsberger - Justizmord
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Artur Landsberger
Justizmord
Erster Teil
1
»Das Haus war vollbesetzt als Ihr Telegramm eintraf; aber die Direktion hat es dennoch ermöglicht,« sagte der Direktor des Hotels Excelsior Regina in Nizza und verbeugte sich tief vor einem Amerikaner, der in Begleitung eines französischen Ehepaares um Anweisung der von Marseille aus telegraphisch bestellten Zimmer bat.
»Also!« erwiderte der Amerikaner ungeduldig.
»Für Sie, Mister Harvey, ein Appartement mit Salon im ersten Stock . . .«
»Und für Herrn und Frau Marot?«
». . . konnte ich leider nur das Doppelzimmer Nummer elf im Zwischenstock nach dem Meer hinaus freimachen.«
»Das genügt ja für die zwei Tage«, sagte Frau Marot, die viel mehr nach Paris als nach Marseille aussah. – Sie warf schnell einen Blick in den Spiegel, der im Vestibül hing, überzeugte sich, daß sie trotz der langen Autofahrt gut aussah, trat dicht an den Amerikaner heran und sagte:
»Also gehen wir!«
»Sie nehmen natürlich meinen Salon.«
»Auf keinen Fall! Salon ohne Zofe wie paßt das zusammen?«
»Es wird das letzte Mal sein, daß Sie ohne Zofe reisen.«
»Lieber Mister Harvey! Wenn Sie die Hälfte von dem halten, was Sie in den letzten vierundzwanzig Stunden versprochen haben, bin ich zufrieden.«
Als sie vor dem Lift standen, erschien endlich Marot, der sich die ganze Zeit über mit dem Gepäck beschäftigt hatte.
Wo steckst du, Andrée!« fragte Frau Marot und erhielt zur Antwort:
»Ich sterbe vor Hunger.«
Mister Harvey bestellte bei dem Kellner, der mit ihnen im Lift hinauffuhr, ein kleines Souper – für drei Personen – in den Salon.
»Ich muß mich umziehen«, erklärte Frau Marot.
»Meine Frau bringt es fertig und macht um elf Uhr nachts noch große Toilette.«
»Bleiben Sie, wie Sie sind«, entschied der Amerikaner – und als sie den Salon betraten und Frau Marot den Hut abnahm, fügte er hinzu: »Sie sollten es einmal mit der neuen Frisur versuchen, die eben in New York Mode wird.«
»Erzählen Sie!« drängte Frau Marot und Mister Harvey weihte sie, während sie aßen, mit einem Eifer in die Mysterien der neuen Frisur ein, die Marot in Staunen setzte.
»Wenn ich mir vorstelle, wie Sie darin aussehen würden!« rief er begeistert, und Frau Marot sprang vom Tische auf, eilte zur Tür und rief:
»Die Frisur lasse ich mir heute nacht noch machen.«
Ehe Marot imstande war, sie zurückzuhalten, war sie schon auf dem Flur.
Der Amerikaner lachte über das ganze Gesicht, goß schnell noch ein Glas Wein herunter, stand auf, nahm Marot beim Arm und sagte:
»Und nun kommen Sie auf Ihr Zimmer.«
Marot fragte:
»Und Dorothée?«
»Die werden wir dort erwarten.«
2
Der Direktor des »Hotel Excelsior Regina« ging mit der Konjunktur. Großfürsten und gekrönte Häupter, einst der Glanz dieses Hauses, hatten keinen Kurs mehr. Ein weiblicher Star der Folie Bergère zündete heute mehr als ehemals eine Kaiserin Eugénie. Da aber die weltreisenden Amerikaner, wie in Wien nach dem alten Kaiser Joseph, so in der Gegend Mentones noch immer nach der alten Eugénie fragten, so ließ man sie ihnen zuliebe am Leben und zeigte gelegentlich auf der Promenade auch mal eine alte Dame, die es sich gern gefallen ließ, für die tote Kaiserin gehalten zu werden. Aber das hatte nur noch Museumswert. Auf den Höhen der Menschheit wandelten nach Ansicht des Hoteldirektors heute allein die Amerikaner.
Mister Harvey und das Ehepaar Marot waren noch nicht im Lift, da ließ der Direktor das ganze Haus nach der Hoteldetektivin Frau Lily Turel absuchen. – Es vergingen fast zehn Minuten – da meldete sie sich endlich am Apparat im Zwischenstock.
»Liebe Turel!« fuhr er sie an. »Sie sind jung, fesch und nach Ansicht Ihres Professors, der Sie mir empfahl, ein ausgezeichneter Jurist. Aber was nützt das alles, wenn Sie nie da sind, wenn man sie sucht.«
»Lieber Direktor,« erwiderte Frau Turel, »das liegt daran, daß ich immer da bin, wo man mich braucht.«
»Das wäre in diesem Falle?«
»Im Entresol.«
»So!? – Nun, dann will ich Ihnen verraten, daß vor einer Viertelstunde der amerikanische Zeitungskönig Harvey bei uns abgestiegen ist.«
»In Begleitung seines Marseiller Korrespondenten Andrée Marot nebst Gattin.«
»Sie wissen?«
»Die Herrschaften haben sich soeben auf den Salon des Mister Harvey ein kleines Souper, bestehend aus kalter Bouillon, Forelle und kaltem Geflügel, sowie eine Flasche unfrappierten Pommery Greno pur bestellt.«
»Ja, woher wissen Sie . . .?«
»Madame Dorothée Marot . . .«
»Den Vornamen kennen Sie auch schon?«
» . . . hat sich gegen ihre Gewohnheit zum Souper nicht umgezogen, sondern ist im Reisedreß geblieben.«
»Ich bewundere Sie.«
»Sie ändern Ihre Meinung sehr schnell, Direktor. – Im übrigen, dieser Mister Harvey, der Ihnen so imponiert, interessiert mich gar nicht.«
»So? Dann scheinen Sie nicht zu wissen, daß ihm ein halbes Dutzend der gelesensten Zeitungen in Chicago gehören.«
»In denen er einen Monat lang für die Aufhebung der Prohibition, im nächsten für die Aufhebung der Todesstrafe kämpft.«
»Er soll dafür kämpfen, daß seine Leser, die mehr als zehn Millionen betragen, nach Europa reisen, Nizza besuchen und im Hotel Excelsior Regina absteigen.«
»Ich bin hier Detektiv und nicht Pressechef.« »Sie sind vor allem hübsch und gescheit.« »Als wenn Sie das beurteilen könnten.« »Vielleicht geben Sie dem Amerikaner Gelegenheit dazu – und bestimmen ihn, daß er in seinen Blättern auf unser Hotel aufmerksam macht.«
»Wenn Sie Animierdamen suchen, gehen Sie ins Kasino.«
»Frau Turel! Wie können Sie sich mit derartigen Frauen vergleichen!«
»Ich lehne jede Tätigkeit ab, die nicht mit meinem Beruf zusammenhängt.«
»Sie haften mir dafür, daß Mister Harvey während seines Aufenthaltes in Nizza weder bestohlen, noch in irgendeiner Form belästigt wird.«
»Solange er sich in Gesellschaft dieses Politikers Marot befindet, lehne ich jede Verantwortung ab.«
»Was sagen Sie? – Wo sprechen Sie denn? – Sie reden ja gar nicht in den Apparat.«
»Ich halte das Zimmer Marots unter Aufsicht – das scheint mir wichtiger.«
»Sie leiden an Halluzinationen. Schonen Sie Ihren Teint, Turelchen! Gehen Sie schlafen!«
»Nicht, bevor in Zimmer Nummer elf das Licht gelöscht ist.«
3
»Das sieht ja hier nett aus«, sagte Mister Harvey, als er mit Marot das Zimmer Nummer elf im Zwischenstock betrat.
Koffer und Handtaschen standen offen. Auf den Tischen, der Waschtoilette, dem Bett lagen wahllos Handschuhe, Strümpfe, Wäsche und Schuhe. – Wer Dorothée nicht kannte, wenn sie ohne Zofe reiste, mußte beim Anblick dieses Zimmers denken, daß Diebe hier eingedrungen waren und die Koffer in aller Eile nach Wertgegenständen durchsucht hatten. – Dem Gedanken gab denn auch der Amerikaner Ausdruck.
Aber Marot widersprach lächelnd und sagte:
»Typisch für Dorothée! Sie hat in aller Eile ihre Bürsten, Scheren und Kämme zusammengesucht und ist damit zu dem Friseur geeilt.«
»Wo sie den um die Zeit finden will, ist mir schleierhaft.«
»Sie findet ihn! – Verlassen Sie sich darauf – und wenn wir in einer Wüste wären.«
Mister Harvey sah sich im Zimmer um. Im Hintergrunde links lag die Schlafkoje, die durch eine Portiere vom Wohnraum getrennt war. Auch hinten rechts war eine Nische, in der ein Sofa, ein runder Tisch und ein paar Stühle standen.
»Ganz gemütlich,« sagte der Amerikaner und nahm seine Handtasche, die unter dem vielen Gepäck stand, das dem Ehepaar Marot gehörte. »Ihre Gattin scheint auch meine Tasche durchsucht zu haben.«
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