Carry Brachvogel - Neue Frauen

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Carry Brachvogel

Neue Frauen

Er fühlte sich unbehaglich, sehr unbehaglich sogar. Fünf Jahre lang hatte er Pariser Pflaster getreten, fünf Jahre lang Pariser Luft geatmet, fünf Jahre lang kleine Pariserinnen geliebt, und nun – nun saß er wieder daheim, im Lande des Regenwetters, des Kalbsbratens und der braven Mädchen . . .

Als guter Deutscher war er natürlich in diesen fünf Jahren ein halber Franzose geworden. Darum haderte er mit dem Schicksal. Er grollte seinem Zeitungspascha, der ihn abberufen aus all dem Pathos und dem Frou-Frou des Boulevards, um aus »unserem Pariser Berichterstatter« den neuen Feuilletonredakteur zu machen. Er wütete und fluchte – innerlich natürlich, aber was half's? Gehorsam, wie eine Diakonissin ins Mutterhaus zurückgeht, mußte er heim in den Redaktionsstab. An seiner Stelle trat nun ein andrer Pariser Pflaster, atmete Pariser Luft, liebte die kleinen Pariserinnen und zeichnete mit dem Sternenkleeblatt, das hieß: »Von unserem eigenen Korrespondenten« . . .

O Paris . . . Paris . . .!

Ungeachtet seines Kummers warf er einen verstohlenen Blick in einen der hohen, schmalen Wandspiegel, welche den Empfangssalon schmückten. Nach Ablauf dieses Blickes erging es ihm wie dem lieben Gott am sechsten Schöpfungstage: er sah, daß es gut war. Mit Befriedigung konstatierte er, daß er tout parisien wirkte, von der eckigen Spitze seines Lackschuhs angefangen bis zur Krawatte, die auf weicher Hemdbrust träumend lag. Eine Krawatte, breit wie ein Epos und dunkel wie eine symbolische Dichtung.

Ein melancholisches Lächeln glitt um seine Lippen. Wer von den sechzig oder achtzig Personen dieses bis in die Nacht hinein verlängerten Jours verstand denn etwas von dem Pariser Hauch, der ihn umschwebte?! Etwa die jungen Mädchen, die da nebenan mit beseligten und beseligenden Fähnrichs Walzer hüpften? Oder die jungen Männer, die um ihn her standen, die aussahen wie Börsengalopins oder wie Reitknechte, in den Frack gezwängt?! Die Frauen vielleicht? Die Frauen?! Ja, gab es denn in dieser Gesellschaft überhaupt Frauen –?! Gab es hier jenes wundersame Gemisch von Seide, Spitzen, Grazie und naiver Prätension, das die Männer umwerben wie ein Reichstagsmandat und hochhalten wie eine Reliquie?! Freilich, die Hausfrau hatte ihn, gleich zu Beginn des Jours, zwei schönen, eleganten Damen zugeführt: »Lieber Doktor, ich glaube, das ist etwas für Sie!«

Die eine hatte ihm schon nach fünf Minuten mit vertraulichem Augenzwinkern erzählt: »Schöne Wäsch' is die Hauptsach' im Leben! Dafür schwärmen die Männer!«

Die andre dagegen, schlecht gelaunt, weil ihr Freund heut abend abgesagt hatte, gähnte nur verdrossen hinter ihrem Federfächer hervor: »So! Von Paris kommen S'?! Da wär' ich an Ihrer Stell' dort 'blieben! Bei uns is's ja fad zum Sterb'n!«

Verletzt hatte er sich zurückgezogen. Nein, in diesem Lande gab es kein reizvolles Geplänkel von »Herzen zu Herzen«, keinen graziösen Flirt zwischen dem Creme und den Krachmandeln. Hier gewährte man nicht mit einem Blicke, versagte man nicht mit einem Fächerschlag; der letzte modernisierte Rest der Ritterpoesie blieb diesen Frauen fremd. Grobschlächtig wie ihre Mahlzeiten waren auch ihre Liebesspiele. . . . Dann hatte er noch etliche sogenannte »Geistreiche« kennen gelernt. Die eine war unerträglich lehrhaft, die zweite posierte auf das »versonnene Kind«, die dritte warf ihm in buntem Wirrwarr alles an den Kopf, was sie nur je über Paris gehört oder gelesen hatte . . .

Mißmutig hielt er stand. Da erscholl, aus einem kleinen Nebenzimmer heraus, der Ruf einer Männerstimme: »Doktor! Doktor! Kommen Sie hierher! Hier ist Ihr Platz!«

Unwillkürlich beeilte er sich, der Männerstimme zu folgen. Hatte es doch geklungen wie ein Notschrei! . . .

Freilich, als er die Portiere lüftete, welche dies Zimmerchen vom Empfangssalon abtrennte, da wär' er am liebsten gleich wieder umgekehrt. Ein Tabaksqualm schlug ihm entgegen, der Atem und Sehkraft benehmen konnte. Um einen Tisch herum saßen acht oder zehn menschliche Wesen, die teils wie moderne, teils wie antikisierte Jünglinge aussahen. Erst als er näher hinschaute, merkte er, daß es Frauen waren, die sich hier versammelt hatten, Frauen mit einigen zaghaft eingestreuten Männern . . .

Man rückte zusammen, machte ihm Platz. Da saß er nun. Laut und leidenschaftlich wogte das Gespräch – um Frauenrecht und Frauenemanzipation. Es schwirrte nur so um ihn her von »Wahlrecht«, »Petition« an den Reichstag, »Erbrecht«, »Benachteiligung der Illegitimen« . . .

Zuerst wußte er gar nicht recht, was das alles heißen sollte. Seine jahrelange Abwesenheit von Deutschland hatte ihn eine mächtig und immer mächtiger anschwellende Woge völlig übersehen lassen. »Frauenemanzipation« – gewiß, auch in Paris hatte er das Wort vernommen, aber der graziösen Pariserin bedeutete es nur einen neuen Reiz, ein neues Schmuckstück, mit dem sie ihr Persönchen behängte. »Frauenemanzipation« – für sie hieß das so viel wie: Radhöschen, Zigarette und ein paar drollig-frivole Redensarten. So hielten es wenigstens jene Pariserinnen, die er kennen gelernt hatte. Seine kleine Grisette mit ihren Freundinnen ebensogut wie die großen Schauspielerinnen, die eleganten Damen, in deren Salons er verkehrte. Keiner von ihnen wäre es eingefallen, aus dem Wort »Emanzipation« einen Knüppel zu schnitzen, mit dem man dem Manne seine Superiorität herunterschlug – –

Und hier? Halb erstaunt, halb empört musterte er sie der Reihe nach. Da war ein kurzgeschorener Blondkopf mit einem »individuellen« Kostüm, das auf die Lachmuskeln wirkte, dort eine Giraffenhalsige mit einem Kneifer und klobigen Fingern, hier eine Ältliche mit Männerscheitel und Zigarre, drüben eine Blasse mit fanatischen Augen und einem abgeschmackten Präraffaelitenanzug. Auch eine ehemals schöne Frau saß da; mit den Jahren war sie »emanzipiert« geworden, so wie ihresgleichen früher mit den Jahren fromm wurden . . .

Wirklich alt war keine einzige von ihnen, die meisten hatten die Vierzig kaum erreicht. Aber den Schleier des Reizes hatten alle abgelegt und über allen lag etwas Streitbares, Männerfeindliches; aus aller Worten tönte die gleiche Leidenschaftlichkeit, die gleiche Erbitterung. Jede von ihnen nahm sich aus wie ein fleischgewordenes: »Mann! Auf dich pfeif ich!«

»Unser Pariser Berichterstatter« – Doktor Thieme – konnte sich eines bänglichen Gefühls nicht erwehren. Er empfand deutlich, daß jede einzelne sich innerlich über seine Krawatte mokierte, über die epische Mystik dieser Krawatte! daß sie seine Knopflochgardenie belächelten und seine Lackschuhe verachteten. . . . Ihm war, als säß' er bei Troglodyten zu Gaste.

Die eine richtete das Wort an ihn. »Sie kommen aus Paris, Herr Doktor! Ich glaube, unsre Bewegung macht sich dort leider nicht stark genug fühlbar!«

Ehe er noch gegen »unsre« Bewegung hätte remonstrieren können, schüttete bereits eine andre ein ganzes Füllhorn statistischer Kenntnisse aus. Sie wußte ganz genau anzugeben, wie viele Französinnen Universitäten besuchten, wie viele Jus, wie viele Medizin studierten, wie viele im letzten Jahr promoviert hatten, welche Rechte man den französischen Frauen neuerdings gegeben, mehr aber noch, welche man ihnen vorenthielt. . . . Und in aller Augen funkelte die Kampflust neu auf, und jedes Wort, das fiel, barg eine Stichelrede auf den Mann, auf den ungerechten, tyrannischen und ach! so inferioren Mann, der im Weib immer nur die Sklavin sehen will und niemals die Genossin! . . .

Vergeblich versuchte Doktor Thieme seinen Männerstandpunkt geltend zu machen, sich und sein Geschlecht gegen diese Angriffe zu verteidigen. Er wurde überschrieen. Die wenigen Männer, die dasaßen, vermochten nicht, ihm genügend beizustehen. Vielleicht wollten sie's auch gar nicht. Er war nahe daran, grob zu werden. Doch noch im letzten Augenblick schlug seine gute Erziehung durch. Sie befahl ihm, sich mit einigen kurzen, höflichen Worten aus diesem Kreise zu entfernen.

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