«Nein», flüsterte Lavendel zurück. «Das ist unmöglich. Es wird ihm übel sein, eh er die Hälfte verputzt hat.»
Der Junge kaute weiter. Als er das zweite Stück aufgegessen hatte, zögerte er und schaute zur Knüppelkuh.
«Iß!» schrie sie. «Gierige kleine Diebe, die gerne Kuchen mögen, müssen Kuchen kriegen! Iß schneller, Junge! Iß schneller! Wir wollen hier nicht den ganzen Tag rumsitzen! Und keine Pausen so wie jetzt! Wenn du noch einmal eine Pause machst, eh du ganz und gar fertig bist, geht’s geradewegs in den Luftabschneider, und ich werde höchstpersönlich die Tür verschließen und den Schlüssel in den Brunnen werfen!»
Der Junge schnitt sich eine dritte Scheibe ab und begann sie zu verzehren. Er war damit rascher als mit den ersten beiden fertig, und sofort griff er nach dem Messer und schnitt sich die nächste Scheibe ab. Er schien auf eine merkwürdige Art und Weise zu seinem eigenen Rhythmus zu kommen.
Matilda, die wie gebannt zuschaute, erkannte an dem Jungen noch keine Anzeichen von Verzweiflung. Er schien vielmehr in dem Maße Zuversicht zu gewinnen, in dem er weitermachte.
«Er kommt gut voran», flüsterte sie Lavendel zu.
«Es wird ihm schon bald übel werden», flüsterte Lavendel zurück. «Das wird grauenhaft sein.»
Als Theo Torfkopp die erste Hälfte dieser Riesentorte verdrückt hatte, hielt er nur für ein paar Sekunden inne und holte ein paarmal tief Luft.
Schon stand die Knüppelkuh mit den Händen auf den Hüften neben ihm und schaute ihn drohend an. «Vorwärts! Weiter!» rief sie. «Aufessen!»
Plötzlich ließ der Junge einen gigantischen Rülpser fahren, der wie Donner durch die Aula rollte. Viele Schüler fingen an zu kichern.
«Ruhe!» brüllte die Knüppelkuh.
Der Junge schnitt sich abermals ein dickes Stück ab und fing an, es mit großer Geschwindigkeit zu verschlingen. Es waren ihm noch immer weder Erschöpfung noch Übelkeit anzumerken. Er sah ganz und gar nicht so aus, als müßte er abbrechen und ausrufen: «Ich kann nicht mehr, ich kann keinen einzigen Bissen mehr! Ich muß mich übergeben!» Er war immer noch im besten Schwung.
Und nun bahnte sich bei den zweihundertundfünfzig Kindern, die ihm in der Aula zuschauten, ein leiser Wandel an. Zu Beginn hatten sie ein drohendes Unheil gewittert. Sie hatten sich auf eine unerfreuliche Szene eingestellt, in der der unglückselige Junge, bis zu den Kiemen mit Schokoladentorte vollgestopft, aufgeben und um Gnade flehen müßte, und dann hätten sie zuschauen müssen, wie die triumphierende Knüppelkuh mehr und immer mehr Torte in den Mund des keuchenden Jungen stopfte.
Aber so verlief die Sache ganz und gar nicht. Theo Torfkopp hatte sich zu drei Vierteln durchgefuttert und zeigte immer noch keine Schwäche. Man hatte vielmehr das Gefühl, daß es ihm allmählich fast Spaß machte. Er mußte einen Berg erklimmen, und er war fest entschlossen, den Gipfel zu erreichen oder dabei umzukommen. Und er war sich unterdessen seiner Zuschauer sehr bewußt geworden und wie sie ihm stillschweigend alle den Daumen drückten. Dies war ja nichts anderes als ein Entscheidungskampf zwischen ihm und der mächtigen Knüppelkuh.
Plötzlich schrie einer: «Weiter, Theo! Du schaffst es!»
Die Knüppelkuh fuhr herum und heulte: «Ruhe!»
Die Zuschauer verfolgten alles wie gebannt. Der Wettkampf hatte sie gepackt. Sie sehnten sich danach, Theo anzuspornen, aber sie wagten es nicht.
«Ich glaube, er schafft es», flüsterte Matilda.
«Ich glaub’s fast auch», flüsterte Lavendel zurück. «Ich hätte nie im Leben geglaubt, daß jemand eine Torte von dieser Größe ganz allein aufessen könnte.»
«Die Knüppelkuh hat das auch nicht geglaubt», flüsterte Matilda, «schau sie doch an. Sie wird immer röter. Wenn er gewinnt, wird sie ihn erschlagen.»
Der Junge wurde jetzt langsamer, es war nicht zu bezweifeln. Aber er stopfte sich das Zeug mit der verbiesterten Ausdauer eines Langstreckenläufers in den Mund, der schon die Ziellinie sieht und weiß, er muß nur einfach noch durchhalten. Als der allerletzte Happen verschwand, erhob sich in der Aula ein ohrenbetäubender Jubel, die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten und klatschten und riefen: «Bravo, Theo! Gut gemacht, Theo! Du hast eine Goldmedaille gewonnen, Theo!»
Die Knüppelkuh stand reglos auf der Bühne. Ihr großes Pferdegesicht hatte die Farbe von geschmolzener Lava angenommen, und ihre Augen funkelten vor Wut. Sie starrte Theo Torfkopp an, der wie eine fette, überfütterte Made auf seinem Stuhl saß, zum Platzen voll, halb betäubt, unfähig, sich zu rühren oder zu reden. Feine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, aber auf seinem Gesicht lag ein triumphierendes Grinsen.
Plötzlich griff die Knüppelkuh nach vorn und packte die große leere Porzellanplatte, auf der die Torte gewesen war. Sie hob sie hoch in die Luft und ließ sie genau auf den Schädel des unglücklichen Theo Torfkopp knallen, daß es nur so klirrte und die Scherben auf der ganzen Bühne herumflogen.
Der Junge war aber so mit Torte angefüllt, daß er einem Sack voll nassem Zement glich, und man hätte ihn nicht einmal mit einem Schmiedehammer etwas anhaben können. Er schüttelte also nur ein paarmal den Kopf und grinste weiter.
«Fahr zur Hölle!» kreischte die Knüppelkuh und marschierte von der Bühne. Die Köchin folgte ihr auf den Fersen.
Lavendel
Mitten in der ersten Woche von Matildas erstem Schuljahr sagte Fräulein Honig zur Klasse:
«Ich habe einige wichtige Mitteilungen für euch, hört also genau zu. Du auch, Matilda. Leg das Buch einen Augenblick beiseite und paß mit auf.»
Lauter kleine emsige Gesichter schauten auf, und alle hörten zu.
«Es ist die Gewohnheit der Schulleiterin», fuhr Fräulein Honig fort, «die Klasse in jeder Woche für eine Schulstunde zu übernehmen. Sie macht das in allen Klassen in der Schule, und jede Klasse kommt an einem ganz bestimmten Tag und zu einer ganz bestimmten Zeit an die Reihe. Bei uns ist das immer zwei Uhr am Donnerstagnachmittag, unmittelbar nach dem Mittagessen. Fräulein Knüppelkuh wird also morgen um zwei eine Stunde von mir übernehmen. Ich werde selbstverständlich auch dasein, aber nur als stumme Zuhörerin, habt ihr das verstanden?»
«Ja, Fräulein Honig», zirpten sie.
«Noch eine Warnung für euch alle», fuhr Fräulein Honig fort, «die Frau Rektorin ist mit allem sehr streng. Achtet also darauf, daß eure Kleider sauber sind, daß eure Gesichter sauber sind und daß eure Hände sauber sind. Redet nur, wenn ihr angesprochen werdet. Wenn sie euch eine Frage stellt, so steht auf, bevor ihr die Antwort gebt. Laßt euch nie auf einen Streit mit ihr ein. Widersprecht ihr niemals. Versucht niemals, witzig zu sein. Das macht sie ärgerlich, und wenn die Frau Rektorin ärgerlich wird, müßt ihr ganz gehörig auf der Hut sein.»
«Das kann man wohl sagen», murmelte Lavendel.
«Ich bin fest davon überzeugt», fuhr Fräulein Honig fort, «daß sie prüfen wird, was ihr in dieser Woche habt lernen sollen, nämlich das Einmalzwei. Ich rate euch also dringend, es noch einmal schön zu üben, wenn ihr nachher zu Hause seid. Bittet eure Mutter oder euren Vater, euch abzuhören.»
«Worin wird sie uns denn noch prüfen?» erkundigte sich jemand.
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