Gwen wünschte sich, dass ihre anderen Geschwister auch bei ihr hätten sein können. Doch Reece war mit Thor gegangen, Gareth war natürlich für alle Ewigkeit verloren und Kendrick war noch immer irgendwo im Osten mit dem Wiederaufbau einer entlegenen Stadt beschäftigt. Sie hatte einen Boten zu ihm geschickt – das war das erste, was sie getan hatte – und sie betete, dass er ihn rechtzeitig erreichen würde um ihn nach Silesia zu rufen, damit er ihr helfen konnte, es zu verteidigen. Wenigstens konnten zwei ihrer Brüder, Kendrick und Godfrey, mit ihr in Silesia Zuflucht finden, damit wüsste sie, wo alle ihre Geschwister waren. Außer natürlich ihre älteste Schwester, Luanda.
Zum ersten Mal seit einer langen Zeit wanderten Gwens Gedanken zu Luanda. Sie hatte immer eine bittere Rivalität mit ihrer Schwester gehabt; es hatte sie nicht im Geringsten überrascht, dass Luanda di erste Gelegenheit ergriffen hatte aus King’s Court zu fliehen und einen McCloud zu heiraten. Luanda war schon immer ehrgeizig gewesen und hatte schon immer die Erste sein wollen. Gwen hatte sie geliebt und zu ihr aufgesehen als sie jünger war; doch Luanda, für die alles ein Wettbewerb war, hatte ihre Liebe nicht erwidert. Und nach einer Weile hatte Gwen aufgegeben.
Doch jetzt tat sie ihr leid; sie fragte sich, was aus ihr geworden war, jetzt nachdem Andronicus die McClouds überfallen hatte. Würde sie getötet werden? Gwen schauderte bei dem Gedanken. Sie waren Rivalinnen, doch sie waren auch immer noch Geschwister, und sie wollte nicht, dass Luanda einen verfrühten Tod fand.
Gwen dachte an ihre Mutter, die einzige ihrer Familie, die noch da draußen war, gestrandet in King’s Court mit Gareth, immer noch im gleichen Zustand. Der Gedanke ließ sie frieren. Trotz aller Wut, die sie auf ihre Mutter hatte, hätte ihr Gwen nicht ein solches Ende gewünscht. Was würde passieren, wenn King’s Court überrannt werden sollte? Würde sie ermordet werden?
Gwen konnte das Gefühl nicht abstreifen, dass ihr so sorgfältig aufgebautes Leben um sie herum zusammenbrach. Es als wäre es erst gestern gewesen, Luandas Hochzeit im Hochsommer, ein glorreiches Fest. King’s Court schwelgte im Überfluss und sie und ihre Familie waren vereint und feierten – und der Ring war uneinnehmbar. Es schien, als würde es ewig so weitergehen.
Jetzt war alles zerbrochen. Nichts war mehr so wie es einmal gewesen ist.
Ein kalter Herbstwind kam auf, und Gwen zog ihren blauen Wollumhang enger um ihre Schultern. Der Herbst war kurz gewesen in diesem Jahr und der Winter hielt schon seinen Einzug. Sie konnte die eiskalten Böen spüren; sie wurden stärker und feuchter, je weiter sie nach Norden kamen. Der Himmel verdunkelte sich, und bald war die Luft mit einem neuen Klang gefüllt – den Schreien der Wintervögel, diese schwarz-roten Raubvögel die tief ihre Kreise zogen, sobald die Temperatur fiel. Sie krächzten unaufhörlich und der Klang strapazierte Gwens Nerven so manches Mal. Es klang wie die Ankündigung eines bevorstehenden Todes.
Seit sie sich von Thor verabschiedet hatte waren sie dem Canyon in Richtung Norden gefolgt. Sie wusste, dass diese Route sie in die westlichste Stadt des Westteils des Rings bringen würde – Silesia. Während sie liefen zog ein gespenstischer Nebel in dicken Schwaden über sie hinweg und schien an Gwen’s Füssen zu hängen.
„Es ist nicht mehr weit, Mylady.“, hörte sie eine Stimme sagen.
Gwen blickte auf und sah Srog neben sich stehen. Er trug die unverkennbare rote Rüstung von Silesia und war flankiert von seinen Kriegern, die alle mit denselben roten Kettenhemden und Stiefeln bekleidet waren.
Gwen war zutiefst berührt von der Güte, mit der Srog ihr begegnete, von der Loyalität an die Erinnerung ihres Vaters, von seinem Angebot, Silesia als Zufluchtsort zu nutzen. Sie wusste nicht, was sie und diese Menschen ohne ihn getan hätten. Sie würden noch immer in King’s Court festsitzen und Gareths Heimtücke ausgeliefert sein.
Srog war einer der ehrenhaftesten Lords, die ihr je begegnet sind. Mit tausenden Kriegern zu seiner Verfügung, mit seiner Kontrolle über das Bollwerk des Westens, musste Srog niemandem Tribut zollen. Doch er hatte ihrem Vater seine Ehrerbietung erwiesen. Es war schon immer eine empfindliche Balance der Macht gewesen. In den Zeiten ihres Großvaters hatte Silesia King’s Court gebraucht; zu ihres Vaters Zeiten weniger; und jetzt, zu ihrer Zeit überhaupt nicht. In der Tat, war sie es, die Silesia brauchte, mit dem Zusammenbruch des Schildes und all dem Chaos in King’s Court.
Natürlich waren die Silver und die Legion die besten Krieger, die es gab – genauso wie die tausende von Männern der königlichen Armee, die Gwen jetzt folgten.
Srog hätte einfach seine Tore verschließen, wie so viele andere Lords, und sich um die Seinen kümmern können. Doch stattdessen hatte er Gwen aufgesucht, hatte ihr die Treue geschworen und darauf bestanden, ihnen allen eine neue Heimat zu bieten. Gwen war fest entschlossen, sich eines Tages dafür zu revanchieren. Falls sie es überleben sollten.
„Sorgt Euch nicht.“, sagte sie sanft und legte ihre Hand auf seine. „Wir würden bis ans Ende der Erde laufen, um zu Eurer Stadt zu kommen. Wir schätzen uns überglücklich über Eure Gunst in dieser schwierigen Zeit.“
Srog lächelte. Er war ein Krieger mittleren Alters mit zu vielen Falten, die all die Schlachten, die er in seinem Leben geschlagen hatte in sein Gesicht gegraben hatten, rötlich-braunem Haar, einem kräftigen Kiefer und ohne Bart. Ein gestandener Mann, nicht nur ein Lord, sondern ein echter Krieger.
„Für Euren Vater wäre ich durchs Feuer gegangen.“, antwortete er. „Ihr müsst mir nicht danken. Es ist eine große Ehre, nun seiner Tochter dienen zu dürfen. Immerhin war es sein Wunsch, dass ihr Herrschen sollt. Wenn ich Eurem Befehl folge, folge ich daher ihm.“
In ihrer Nähe marschierten auch Kolk und Brom und hinter ihnen war das ständig präsente klappern von tausenden von Sporen, von Schwertern die in ihren Scheiden klappern, von Schilden, die gegen Rüstungen stießen.
Es war eine riesige Kakophonie von Geräuschen die sich weiter und weiter entlang der Kante des Canyon Richtung Norden bewegte.
„Mylady. Die Schuld wiegt schwer auf meinen Schultern.“, sagte Kolk. „Wir hätten Thor, Reece und die anderen nicht alleine ins Empire aufbrechen lassen dürfen. Mehr von uns hätten mit ihnen gehen sollen. Wenn ihnen irgendetwas zustößt, bin ich schuld.“
„Sie haben ihre eigene Wahl getroffen.“, sagte Gwen. „Es ist eine ehrenwerte Suche. Wer auch immer vom Schicksal ausgewählt worden ist zu gehen, hat sich auf die Suche begeben. Sich schuldig zu fühlen hilft niemandem.“
„Und was geschieht, wenn sie nicht rechtzeitig mit dem Schwert zurückkehren?“, fragte Srog. „Es wird nicht lange dauern, bevor Andronicus vor unseren Toren aufmarschieren wird.“
„Dann werden wir uns zur Wehr setzen.“, erklärte Gwen selbstbewusst, und versuchte in ihrer Stimme soviel Mut mitschwingen zu lassen, wie sie nur konnte, in der Hoffnung die anderen damit zu beruhigen. Sie bemerkte, dass sich die anderen Generäle zu ihr umdrehten und sie ansahen.
„Wir werden uns bis zuletzt verteidigen.“, fügte sie hinzu. „Weder werden wir uns zurückziehen noch kapitulieren.“
Sie konnte spüren, dass die Generäle beeindruckt waren. Sie war selbst von ihrer Stimme beeindruckt, von der Stärke, die in ihr aufstieg. Es war die Stärke ihres Vaters, von sieben Generationen von MacGil Königen.
Als sie weitermarschierten, bog die Straße in einer scharfen Kurve nach links, und als sie ihr folgte blieb sie stehen. Der Anblick verschlug ihr den Atem.
Silesia.
Gwen erinnerte sich, dass ihr Vater sie auf seinen Reisen hierhin mitgenommen hatte als sie noch ein kleines Mädchen war. Es war ein Ort, der seitdem in ihren Träumen nachgeklungen hatte, ein Ort der ihr damals magisch vorgekommen war. Und jetzt, da sie ihn als erwachsene Frau wieder sah, nahm er ihr immer noch den Atem.
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