Sie machte sich Sorgen um ihren langjährigen Partner, Bill Jeffreys. Er wohnte in der Nähe der Basis, doch hatte sie ihn seit mehreren Tagen nicht gesehen. Bill litt an PTBS und Riley wusste aus eigener Erfahrung wie schwer es war, sich davon zu erholen.
Sie nahm ihr Handy und tippte eine Nachricht.
Dachte, ich könnte für ein paar Minuten vorbeischauen. Biste zuhause?
Sie wartete einige Augenblicke. Die Nachricht war als „angekommen”, doch nicht gelesen gekennzeichnet.
Riley seufzte ein wenig. Sie hatte keine Zeit darauf zu warten, dass Bill seine Nachrichten abrief. Wenn sie ihn vor ihrer Abfahrt noch sehen wollte, musste sie jetzt vorbeischauen und hoffen, dass er zuhause war.
*
Vom BAU Gebäude bis zu Bills kleiner Wohnung in Quantico Stadt waren es nur wenige Minuten Fahrt. Als sie ihr Auto parkte und auf das Gebäude zu ging, fiel ihr einmal mehr auf, was für ein deprimierender Ort es war.
Für ein Mehrfamilienhaus gab es eigentlich nichts wirklich daran auszusetzen––es war ein normales rotes Backsteingebäude, kein Mietshaus oder irgendetwas vergleichbares.
Doch Riley konnte nicht anders, als sich an das schöne Haus in einem Vorort zu erinnern, in dem Bill bis zu seiner Scheidung gelebt hatte. Im Vergleich dazu besaß dieser Ort keinen Charme, und Bill lebte jetzt allein.
Riley betrat das Gebäude und lief auf direktem Weg zu Bills Wohnung im zweiten Stock. Sie klopfte an die Tür und wartete.
Alles blieb still. Sie klopfte erneut und bekam immer noch keine Antwort. Sie kramte ihr Handy hervor und sah, dass die Nachricht immer noch nicht gelesen wurde.
Sie fühlte, wie sie die Sorge überkam. War Bill etwas passiert?
Sie griff nach dem Türknopf und drehte ihn. Beunruhigt bemerkte sie, dass die Tür nicht verschlossen war und sich öffnete.
Bills Wohnung sah aus, als wäre sie geplündert worden. Riley blieb für einen Moment wie erstarrt in der Tür stehen, bereit, ihre Pistole zu ziehen, sollte immer noch ein Eindringling in der Wohnung sein. Dann entspannte sie sich. Die Dinge, die überall verstreut lagen, waren Lebensmittelverpackungen, dreckige Teller und Gläser. Es herrschte Chaos, doch es war ein selbst verursachtes Chaos. Sie rief Bills Namen.
Sie konnte keine Antwort hören.
Sie rief erneut.
Dieses Mal glaubte sie, aus einem nahegelegenen Raum ein Stöhnen zu hören.
Als sie durch die Tür in Bills Schlafzimmer eilte, spürte sie ihr Herz erneut pochen. Der Raum war dämmrig, und die Jalousien waren geschlossen. Bill lag in zerknitterter Kleidung auf dem nicht gemachten Bett und starrte an die Decke.
„Bill, warum hast du nicht abgehoben, als ich anrief?”, fragte sie leicht irritiert.
„Habe ich doch”, sagte er beinahe flüsternd. „Du hast mich nicht gehört. Könntest du aufhören, so laut zu sein?”
Riley bemerkte, dass auf dem Nachtisch eine fast leere Flasche Bourbon stand. Auf einmal wurde ihr alles klar. Sie setze sich neben ihn auf das Bett.
„Ich hatte eine ziemlich harte Nacht”, sagte Bill und versuchte, sich zu einem schwachen Lachen zu zwingen. „Du weißt, wie das ist.”
„Ja, das tue ich”, sagte Riley.
Verzweiflung hatte schließlich auch sie zu ihren Exzessen, samt anschließendem Kater, getrieben.
Sie berührte seine feuchte Stirn, und versuchte sich vorzustellen, wie krank er sich fühlte.
„Was hat dich bewegt, zu trinken?” fragte sie.
Bill ächzte.
„Es waren meine Jungs”, sagte er.
Dann wurde er still. Riley hatte Bills Söhne schon seit einer Weile nicht gesehen. Sie vermutete, dass sie inzwischen neun und elf Jahre alt sein müssten.
„Was ist mit ihnen?”, fragte Riley.
„Sie kamen gestern zu Besuch. Es lief nicht gut. Die Wohnung war ein einziges Durcheinander, und ich war so reizbar und angespannt. Sie konnten es kaum erwarten, wieder nach hause zu fahren. Riley, es war furchtbar. Ich war furchtbar. Noch ein Besuch, wie dieser, und Maggie wird mich die beiden nicht mehr sehen lassen. Sie sucht doch nur nach irgendeinem Grund, sie mir endgültig wegzunehmen.”
Bill machte ein Geräusch, das fast wie ein Schluchzen klang. Zum Weinen schien ihm jedoch die Energie zu fehlen. Riley vermutete, dass er viel alleine geweint hatte.
Bill sagte: „Riley, wenn ich als Vater nichts mehr tauge, welchen Wert habe ich dann noch? Als Agent tauge ich auch nichts mehr. Was bleibt da noch?”
Riley fühlte eine stechende Traurigkeit in ihrer Kehle.
„Bill, sag so etwas nicht”, sagte sie. „Du bist ein guter Vater. Und du bist ein großartiger Agent. Vielleicht nicht heute, aber an jedem anderen Tag im Jahr.”
Bill schüttelte müde den Kopf.
„Gestern habe ich mich sicher nicht wie ein Vater gefühlt. Und ich höre einfach immer wieder diesen Schuss. Ich erinnere mich, wie ich in das Gebäude gerannt bin, und Lucy dort blutend habe liegen sehen.”
Riley fühlte, wie ihr eigene Körper zu zittern anfing.
Auch sie erinnerte sich nur zu gut.
Sich keiner Gefahr bewusst, hatte Lucy ein verlassenes Gebäude betreten, nur um von der Kugel eines Scharfschützen getroffen zu werden. Bill, der ihr direkt gefolgt war, hatte aus Versehen einen jungen Mann erschossen, der versucht hatte, ihr zu helfen. Als Riley eintraf, hatte Lucy den Scharfschützen gerade mit letzter Kraft in einem Schusswechsel getötet.
Kurz darauf war Lucy gestorben.
Es war ein furchtbarer Anblick gewesen.
Riley konnte sich kaum an schlimmere Situationen in ihrer Karriere erinnern.
„Ich bin sogar noch später als du gekommen”, sagte sie.
„Ja, aber du hast auf keinen unschuldigen jungen Menschen geschossen.”
„Es war nicht dein Fehler. Es war dunkel. Du konntest es nicht wissen. Außerdem geht es dem jungen Mann heute gut.”
Bill schüttelte den Kopf. Er hob eine zitternde Hand.
„Schau mich an. Sehe ich aus, wie jemand, der jemals wieder arbeiten gehen kann?”
Riley war nun fast verärgert. Er sah wirklich furchtbar aus—ganz sicher nicht, wie der scharfsinnige, mutige Partner, dem sie ihr Leben anzuvertrauen gelernt hatte, und auch nicht, wie der gut aussehende Mann, zu dem sie sich, ganz unbedacht, von Zeit zu Zeit hingezogen gefühlt hatte.
Und all das Selbstmitleid stand ihm nicht.
Doch, erinnerte sie sich streng …
Ich habe das auch durchgemacht. Ich weiß doch, wie es ist.
Und als es ihr so ging, war Bill immer für sie da gewesen und hatte ihr geholfen, damit fertig zu werden. Manchmal hatte er hart zu ihr sein müssen.
Sie schloß, dass er jetzt ebenfalls etwas von dieser Härte brauchte.
„Du siehts echt scheiße aus”, sagte sie. „Doch der Zustand, indem du dich gerade befindest—also, das hast du dir angetan. Und du bist der Einzige, der es auch wieder richten kann.”
Bill schaute hoch und blickte sie an. Sie spürte, dass sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Setz dich auf”, sagte sie. „Reiß dich zusammen.”
Bill zog sich knirschend hoch und setzte sich auf die Bettkante neben Riley.
„Hat die Behörde dir einen Therapeuten vermittelt?”, fragte sie.
Bill nickte.
„Wer ist es?”, fragte Riley.
„Ist doch egal”, sagte Bill.
„Es ist todsicher nicht egal”, sagte Riley. „Wer ist es also?”
Bill antwortet nicht. Doch Riley konnte es auch erraten. Bills Psychiater war Leonard Ralston, der Öffentlichkeit bekannt als „Dr. Leo.” Sie fühlte Ärger in sich aufsteigen. Doch auf Bill war sie jetzt nicht mehr sauer.
„Oh, mein Gott”, sagte sie. „Sie haben dich mit Dr. Leo abgefertigt. Wessen Idee war das denn? Walders, darauf würde ich wetten.”
„Wie ich schon sagte, es spielt keine Rolle.”
Riley wollte ihn schütteln.
„Er ist ein Quacksalber”, sagte sie. „Das weißt du so gut, wie ich. Er glaubt an Hypnose, wiederhergestellte Erinnerung, an all diesen widerlegten Mist. Erinnerst du dich nicht mehr, als er letztes Jahr einen unschuldigen Mann davon überzeugt hat, dass er sich eines Mordes schuldig gemacht habe? Walder gefällt Dr. Leo, weil er Bücher geschrieben hat und schon oft im fernsehen zu sehen war.”
Читать дальше