Trudys Stimme versagt. Riley nahm den Mut zusammen, um zu sprechen.
»Mir geht es genauso«, sagte sie. »Ich habe mich nach unten verzogen, als wir alle in den Centaur's Den kamen, und ich habe Rhea nicht beachtet. Wenn ich vielleicht ...«
Riley hielt inne und fügte hinzu: »Deshalb fühle ich mich auch schuldig. Und noch etwas anderes. Selbstsüchtig, glaube ich. Weil ich allein sein wollte.«
Dr. Hayman nickte. Mit einem sympathischen Lächeln sagte er: »Also hat keiner von euch Rhea nach Hause begleitet.«
Nach einer Pause fügte er hinzu: »Eine Unterlassung-Sünde.«
Der Satz erschreckte Riley ein bisschen.
Er schien auf seltsame Weise unpassend für das, was Riley und Trudy nicht getan hatten. Er klang zu gutartig, nicht annähernd schrecklich genug, kaum eine Frage von Leben und Tod.
Aber natürlich war es die Wahrheit - so wie es aussah.
Hayman sah sich den Rest der Klasse an.
»Was ist mit dem Rest von euch? Habt ihr jemals die gleiche Art von Dingen in einer ähnlichen Situation getan oder nicht getan? Habt ihr jemals, sagen wir mal, eine Freundin nachts irgendwo allein herumlaufen lassen, wo ihr sie doch eigentlich hättet begleiten sollen? Oder vielleicht nur versäumt, etwas zu tun, das für die Sicherheit eines anderen wichtig sein könnte? Jemandem nicht die Autoschlüssel abgenommen, wenn er zu viel getrunken hat? Eine Situation ignoriert, die zu Verletzungen oder gar zum Tod hätte führen können?«
Ein wirres Gemurmel schwoll unter den Studenten an.
Riley wurde klar - es war wirklich eine schwierige Frage.
Denn wenn Rhea nicht getötet worden wäre, hätten weder Riley noch Trudy über ihre ›Unterlassungssünde‹ nachgedacht.
Sie hätten das alles vergessen.
Es war keine Überraschung, dass es zumindest einigen der Studenten schwer fiel, sich auf die eine oder andere Weise zu erinnern. Und die Wahrheit war, Riley selbst konnte sich nicht genau an so eine Situation erinnern. Hatte es schon Zeiten gegeben, in denen sie es versäumt hatte, auf die Sicherheit von jemandem zu achten?
Könnte sie für den Tod von jemand anderem verantwortlich gewesen sein - wenn derjenige nicht einfach nur zufällig Glück gehabt hätte?
Nach einigen Augenblicken hoben sich einige zögerliche Hände.
Dann sagte Hayman: »Was ist mit dem Rest von euch? Wie viele von euch können sich einfach nicht mehr erinnern?«
Fast alle anderen Studenten hoben ihre Hände.
Hayman nickte und sagte: »Nun gut. Die meisten von euch haben vielleicht irgendwann den gleichen Fehler gemacht. Also, wie viele Leute hier fühlen sich schuldig wegen der Art, wie ihr euch verhalten habt oder was ihr wohl besser getan hättet, aber nicht getan habt?«
Es gab noch mehr verworrenes Gemurmel und sogar ein paar keuchende Laute.
»Was?«, fragte Hayman. »Keiner von euch? Warum nicht?«
Ein Mädchen hob die Hand und stammelte: »Nun, es war anders, weil ... ich schätze, weil ... niemand getötet wurde.«
Dem folgte ein allgemeines zustimmendes Gemurmel.
Riley bemerkte, dass ein anderer Mann das Klassenzimmer betreten hatte. Es war Dr. Dexter Zimmerman, der Vorsitzende der Psychologischen Abteilung. Zimmerman schien neben der Tür gestanden und der Diskussion aufmerksam zugehört zu haben.
Sie hatte im letzten Semester einen Kurs bei ihm gehabt - Sozialpsychologie. Er war ein älterer, zerknittert aussehender, freundlicher Mann. Riley wusste, dass Dr. Hayman zu ihm als Mentor aufblickte - ihn fast schon vergötterte. Auch viele Studenten taten das.
Rileys eigene Gefühle für Professor Zimmerman waren eher gemischt. Er war ein inspirierender Lehrer gewesen, aber irgendwie hatte sie nicht die gleiche Verbindung zu ihm aufgebaut wie die meisten anderen. Sie war sich nicht sicher, warum.
Hayman erklärte der Klasse: »Ich habe Dr. Zimmerman gebeten, vorbeizuschauen und an der heutigen Diskussion teilzunehmen. Er sollte uns wirklich helfen können. Er ist der einfühlsamste Typ, den ich je gekannt habe.«
Zimmerman errötete und kicherte ein wenig.
Hayman fragte ihn: »Was halten Sie von dem, was Sie gerade von meinen Studenten gehört haben?«
Zimmerman neigte den Kopf und dachte kurz nach.
Dann sagte er: »Nun, zumindest scheinen einige Ihrer Studenten zu denken, dass es hier eine Art moralischen Unterschied gibt. Wenn man es versäumt, jemandem zu helfen und er wird verletzt oder getötet, ist es falsch - aber es ist in Ordnung, wenn es keine negativen Konsequenzen gibt. Aber ich sehe keinen Unterschied. Das Verhalten ist identisch. Unterschiedliche Konsequenzen zeigen nicht wirklich, dass man sich richtig oder falsch verhalten hat.«
Eine Stille fiel über das Klassenzimmer, als Zimmermans Argument einzusinken begann.
Hayman fragte Zimmerman: »Bedeutet das, dass sich jeder hier wie Riley und Trudy mit Schuldgefühlen überhäufen sollte?«
Zimmerman zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht trifft genau das Gegenteil zu. Tut das Schuldgefühl irgendjemandem gut? Wird es die junge Frau zurückbringen? Vielleicht gibt es angemessenere Dinge, die wir alle jetzt fühlen sollten.«
Zimmerman trat vor den Schreibtisch und stellte Blickkontakt zu den Studenten her.
»Diejenigen von euch, die Rhea nicht sehr nahe standen, sagt mir: Wie fühlt ihr euch für ihre beiden Freunde, Riley und Trudy?«
Im Raum war es für einen Moment still.
Dann war Riley erstaunt, ein paar Schluchzer im Klassenzimmer zu hören.
Ein Mädchen sagte mit erstickter Stimme: »Oh, ich fühle mich so schrecklich für sie.«
Ein anderer Student sagte: »Riley und Trudy, ich wünschte, ihr würdet euch nicht schuldig fühlen. Das solltet ihr nicht. Was mit Rhea passiert ist, war schrecklich genug. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, welchen Schmerz ihr gerade empfindet.«
Andere Studenten stimmten dem zu.
Zimmerman schenkte der Klasse ein verständnisvolles Lächeln.
Er sagte: »Ich schätze, die meisten von euch wissen, dass meine Spezialität kriminelle Pathologie ist. Mein Lebenswerk besteht darin, den Verstand eines Kriminellen zu ergründen. Und in den letzten drei Tagen habe ich darum gekämpft, dieses Verbrechen zu verstehen. Bis jetzt bin ich mir nur einer Sache sicher. Es war etwas Persönliches. Der Mörder kannte Rhea und wollte ihren Tod.«
Wieder kämpfte Riley darum, das Unverständliche zu begreifen ...
Jemand hasste Rhea genug, um sie zu töten?
Dann fügte Zimmerman hinzu: »So schrecklich das klingt, eines kann ich euch versichern. Er wird nicht wieder töten. Sein Ziel war Rhea, niemand sonst. Und ich bin zuversichtlich, dass die Polizei ihn bald finden wird.«
Er lehnte sich an den Rand des Schreibtisches und sagte: »Ich kann euch noch etwas sagen - wo immer der Mörder gerade ist, was auch immer er tut, er fühlt nicht, was ihr alle zu fühlen scheint. Er ist unfähig, Sympathie für das Leiden einer anderen Person zu empfinden - noch weniger für die Empathie, die ich in momentan in diesem Raum spüre.«
Er schrieb die Worte ›Sympathie‹ und ›Empathie‹ auf die große Tafel.
Er fragte: »Möchte mich jemand an den Unterschied zwischen diesen beiden Worten erinnern?«
Riley war etwas überrascht, dass Trudy ihre Hand hob.
Trudy sagte: »Sympathie ist, wenn man sich darum kümmert, was jemand anderes fühlt. Empathie ist, wenn man die Gefühle eines anderen teilt.«
Zimmerman nickte und notierte Trudys Definitionen.
»Genau«, sagte er. »Also schlage ich vor, dass wir alle unsere Schuldgefühle beiseite legen. Konzentriert euch stattdessen auf unsere Fähigkeit zur Empathie. Sie unterscheidet uns von den schrecklichsten Monstern der Welt. Sie ist kostbar - am allermeisten in einer Zeit wie dieser.«
Hayman schien mit Zimmermans Betrachtungen zufrieden zu sein.
Er sagte: »Wenn es für alle in Ordnung ist, sollten wir den heutigen Kurs an dieser Stelle abbrechen. Das war ziemlich heftig - aber ich hoffe, es war hilfreich. Vergesst nur nicht, dass ihr alle gerade ein paar ziemlich starke Gefühle verarbeitet - sogar diejenigen von euch, die Rhea nicht sehr nahe standen. Erwartet nicht, dass die Trauer, der Schock und der Schrecken in nächster Zeit verschwinden. Gebt ihnen Raum, sie sind Teil des Heilungsprozesses. Und habt keine Angst, die Betreuer der Fakultät um Hilfe zu bitten. Oder euch untereinander. Oder mich und Dr. Zimmerman.«
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