“Gibt ein ziemlich schreckliches Bild, oder?”, fragte Ellington.
Mackenzie nickte, während sie mit ihrem Handy Fotos vom Tatort machte. Dabei kam ihr der Gedanke der Kreuzigung erneut. Es ließ sie an den ersten Fall denken, an dem sie je gearbeitet hatte, wo Kreuzigungsthemen benutzt wurden – ein Fall damals in Nebraska, der sie schließlich dazu geführt hatte, mit dem Büro zu verkehren.
Der Scarecrow Mörder dachte sie. Gott, werde ich das jemals in meinen Erinnerungen vergraben können?
Hinter ihr ging die Sonne auf, die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Als ihr Schatten langsam auf die Kirchentreppe geworfen wurde, versuchte sie die Tatsache zu ignorieren, dass es fast wie ein Kreuz aussah.
Wieder kamen ihr Erinnerungen an den Scarecrow Fall ins Gedächtnis.
Vielleicht ist es das, dachte sie hoffnungsvoll. Wenn ich diesen Fall abschließe, werden mich vielleicht die Erinnerungen an diese gekreuzigten Menschen auf den Kornfeldern endlich nicht mehr verfolgen.
Aber als sie zurück auf die blutgetränkten Türen der presbyterianischen Cornerstone schaute, hatte sie Angst, dass das nichts mehr als Wunschdenken war.
Mackenzie lernte in der nächsten halben Stunde jede Menge über Pastor Ned Tuttle. Erst einmal hatte er zwei Söhne und eine Schwester hinterlassen. Seine Frau hatte sich vor acht Jahren von ihm getrennt und war nach Austin, Texas gezogen, mit einem Mann, mit dem sie über ein Jahr lang eine Affäre gehabt hatte, ehe es rausgekommen war. Beide Söhne lebten in der Georgetown Gegend und das führte Mackenzie und Ellington zu ihrem ersten Halt des Tages. Es war gerade 6:30 Uhr als Mackenzie das Auto am Bordstein vor Brian Tuttle’s Wohnung parkte. Laut dem Agenten, der die Neuigkeiten überbracht hatte, waren beide Brüder da und warteten darauf, um zu tun, was sie konnten, um die Fragen über den Tod ihres Vaters zu beantworten.
Als Mackenzie in Brian Tuttles Wohnung trat, war sie ein wenig überrascht. Sie hatte erwartet zwei Söhne in tiefer Trauer zu sehen, zerrissen von dem Verlust ihres religiösen Vaters. Stattdessen sah sie, wie sie an einem kleinen Esstisch in der Küche saßen. Sie tranken beide Kaffee.
Brian Tuttle, zweiundzwanzig Jahre alt, aß eine Schüssel Cornflakes, während Eddie Tuttle, neunzehn, abwesend eine Eggo Waffel in einen Siruptopf tunkte.
“Ich weiß nicht, was genau wir Ihnen sagen können”, sagte Brian. “Wir hatten nicht das beste Verhältnis zu unserem Vater.”
“Darf ich fragen warum?”, fragte Mackenzie.
“Weil wir aufgehört haben, uns mit ihm abzugeben, als er sich ganz der Kirche gewidmet hat.”
“Sind Sie nicht gläubig?”, fragte Ellington.
“Ich weiß nicht”, sagte Brian. “Ich glaube, ich bin Agnostiker.”
“Ich bin gläubig”, sagte Eddie. “Aber mein Vater … er hat das Ganze auf ein ganz neues Level gehoben. Als er herausgefunden hat, dass meine Mutter ihn betrügt, hat er nichts unternommen. Nachdem er zwei Tage damit gehadert hat, hat er ihr vergeben und dem Typen, mit dem sie ihn betrogen hatte, ebenso. Er sagte, er vergibt ihnen, weil christliche Menschen das tun. Und er hat sich geweigert, über eine Scheidung zu sprechen.”
“Ja”, sagte Brian. “Und Mama hat gesehen, dass Papa es scheißegal war – es hat ihn nicht gekümmert, dass sie ihn betrogen hatte. Also ist sie gegangen. Und er hat nicht viel getan, um sie aufzuhalten.”
“Hat euer Vater je versucht, mit euch zu sprechen? Seit eure Mutter gegangen ist?”
“Oh ja”, sagte Brian. “Ungefähr jeden Samstagabend hat er uns gebeten, in die Kirche zu kommen.”
“Und außerdem”, fügte Eddie hinzu, “war er zu beschäftigt unter der Woche, auch wenn wir ihn sehen wollten. Er war immer in der Kirche oder bei Charity Veranstaltungen oder bei Krankenbesuchen im Krankenhaus.”
“Wann war das letzte Mal, dass einer von Ihnen länger mit ihm gesprochen hat?”, fragte Mackenzie.
Die Brüder sahen sich einen Moment an und rechneten nach. “Ich bin mir nicht sicher”, sagte Brian. “Vielleicht vor einem Monat. Und das war auch nicht viel. Er hat dieselben Fragen gestellt: Wie die Arbeit lief, ob ich eine Freundin habe, solche Sachen.”
“Man kann also mit Sicherheit sagen, dass Sie ein zerstrittenes Verhältnis mit Ihrem Vater hatten?”
“Ja”, sagte Eddie.
Er sah einen Moment auf den Tisch, als die Reue einsetzte. Mackenzie hatte diese Art von Reaktion schon früher gesehen; wenn sie hätte Wetten müssen, wäre sie sicher gewesen, dass wenigstens einer dieser Männer innerhalb von einer Stunde ein schluchzendes Häufchen Elend wäre, wenn er erkannte, dass alles verloren war, hinsichtlich des Vaters, den sie nie richtig gekannt hatten.
“Wissen Sie, wer ihn gut kannte?”, fragte Mackenzie. “Hatte er irgendwelche engen Freunde?”
“Nur der Priester oder Pastor oder was auch immer in der Kirche”, sagte Eddie. “Derjenige, dem die Kirche gehört.”
“Ihr Vater war nicht der leitende Pastor?”, fragte Mackenzie.
“Nein. Er war ein Hilfspastor oder so etwas”, antwortete Brian. “Es gab noch einen Mann, der über ihm stand. Jerry Levins, glaube ich.”
Mackenzie bemerkte, wie die jungen Männer die Begriffe verwechselten. Pfarrer, Pastor, Priester…. Es war alles ziemlich verwirrend. Mackenzie kannte nicht einmal den Unterschied, sie nahm an, es hatte etwas mit den Unterschieden im Glauben zwischen den Konfessionen zu tun.
“Und ihr Vater hat viel Zeit mit ihm verbracht?”
“Oh ja”, sagte Brian, ein wenig wütend. “Seine ganze verdammte Zeit, glaube ich. Wenn Sie etwas über meinen Vater wissen wollen, sollten sie ihn fragen.”
Mackenzie nickte, wohl wissend, dass sie keine nützlichen Informationen von den beiden jungen Männern erhalten würde. Trotzdem wünschte sie sich, dass sie mehr Zeit hätte, um mit ihnen zu sprechen. Es gab klar ungeklärte Spannung und Verlust zwischen ihnen. Vielleicht würden sie mehr zu bieten haben, wenn sie die emotionalen Mauern durchbrachen, die sie so ruhig bleiben ließen. Schließlich drehte sie sich um und dankte ihnen. Sie und Ellington verließen still die Wohnung. Als sie Seite an Seite die Stufen heruntergingen, nahm er ihre Hand.
“Alles okay?”, fragte er.
“Ja”, sagte sie verwirrt. “Warum?”
“Zwei Kinder … ihr Vater ist gerade gestorben und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Mit all den Spekulationen über den alten Fall deines Vaters in der letzten Zeit … frage ich mich das eben.”
Sie lächelte ihn an und genoss die aufmunternde Art, wie ihr Herz sich in diesen Momenten fühlte.
Gott, er kann so süß sein…
Als sie zusammen in den Morgen hinausgingen, erkannte sie auch, dass er recht hatte: Der Grund, warum sie bleiben und weiter reden wollte, war, weil sie den Tuttle Brüdern helfen wollte, Probleme zu lösen, die sie mit ihrem Vater gehabt hatten.
Anscheinend verfolgte sie der Geist des kürzlich wieder eröffneten Falles ihres Vaters mehr als sie sich eingestanden hatte.
***
Die presbyterianische Cornerstone Kirche im Morgenlicht zu sehen war unwirklich. Mackenzie fuhr auf dem Weg zu ihrem Besuch bei Pastor Jerry Levins daran vorbei. Levins wohnte in einem Haus, das nur einen halben Block von der Kirche entfernt war. So etwas hatte Mackenzie oft in ihrer Zeit in Nebraska gesehen, wo die Vorstände von kleineren Kirchen dazu neigten, in unmittelbarer Nähe ihres Gotteshauses zu leben.
Als sie an Levins Haus ankamen, waren zahlreiche Autos entlang des Bürgersteigs sowie auch auf der Einfahrt geparkt. Sie nahm an, dass das wahrscheinlich Mitglieder von Cornerstone waren, die vorbeikommen waren, um Trost zu suchen oder Pastor Levins Trost zu spenden.
Als Mackenzie an die Vordertür des bescheidenen kleinen Ziegelhauses klopfte, wurde sofort geöffnet. Die Frau an der Tür hatte offensichtlich geweint. Sie sah Mackenzie und Ellington argwöhnisch an, bis Mackenzie ihr Abzeichen hochhob.
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