Als sie aus dem Auto ausstiegen und sich den Müllbergen näherten, dachte Mackenzie, dass sie Bryers durchschaut hatte. Er war größtenteils ein Mann, der sich an Vorschriften hielt. Er kam nicht gerade aus sich heraus und sagte nur wenig, aber er war extrem nervös, dass sie mit ihm in demselben Auto fahren würde, obwohl seine Vorgesetzten dieser Sache mit verschlossenen Augen ihre Zustimmung gegeben hatten. All das konnte sie deutlich an seiner Körperhaltung und den flüchtigen Blicken, die er ihr zuwarf, erkennen.
Mackenzie ging langsam, während Bryers sich den großen, grünen Tonnen näherte. Er lief auf sie zu, als ob er hier arbeiten würde und sie musste sich daran erinnern, dass er bereits hier gewesen war. Er wusste, was ihn erwarten würde, was ihr das Gefühl gab, eine Anfängerin zu sein – was sie ja eigentlich auch war.
Sie ließ sich einen Moment Zeit, die Umgebung in sich aufzunehmen, denn sie hatte sich noch nie die Mühe gemacht, sich mit Mülldeponien zu beschäftigen. Der Bereich, in dem sie und Bryers sich zurzeit befanden – der Teil des Geländes, in dem Fahrzeuge erlaubt waren – war nichts weiter als eine Müllkippe. Er bestand aus sechs großen Metallcontainern, die nebeneinander aufgereiht waren, jeder von ihnen saß in einem Loch im Boden. Hinter den Müllgruben konnte sie einen Bereich sehen, an dem die Ausbeute auf LKWs geladen wurde. Um diese Gruben zu ermöglichen, in denen ein Großteil der Müllberge verschwand, war die gepflasterte Einfahrt und der Parkplatz wie ein Hügel geformt, auf dessen oberstem Punkt sie und Bryers nun standen, während die Straße durch die Mülldeponie und darüber hinaus führte und sich schlängelte, bis man am anderen Ende des Abladeplatzes wieder auf die Schnellstraße gelangte.
Mackenzie musterte den Boden. Dort, wo sie stand, gab es nichts außer zusammengedrücktem Dreck, der erst in Kiesel und dann auf der anderen Seite der großen Tonnen in Teer überging. Sie stand im dreckigen Bereich, auf dem Reifenspuren wie geisterhafte Abdrücke auf dem Boden zu sehen waren. Aufgrund der überkreuzten und verwischten Reifenabdrücke wäre es äußerst schwierig, eine verlässliche Spur zu identifizieren. In letzter Zeit war es trocken und heiß gewesen und es hatte zuletzt vor einer Woche geregnet, doch selbst das war nur ein leichtes Nieseln gewesen. Der trockene Boden würde die Sache noch zusätzlich erschweren.
Weil sie ahnte, dass es nahezu unmöglich war, nützliche Abdrücke aus dem Spurenchaos zu entnehmen, trat sie zu Bryers, der neben einer Müllgrube stand.
„Die Leiche wurde hier drinnen gefunden“, sagte Bryers. „Die Gerichtsmediziner haben bereits Blutproben und Fingerabdrücke des Opfers genommen. Sie hieß Susan Kellerman, war einundzwanzig Jahre alt, und kam aus Georgetown.“
Mackenzie nickte, doch schwieg. Als sie in die Grube schaute, verschoben sich ihre Prioritäten. Sie arbeitete jetzt direkt mit dem FBI zusammen, was ihr das Gefühl gab, ein paar Schritte zu überspringen. Sie würde ihre Zeit nicht damit verschwenden, etwas Offensichtliches zu suchen. Diejenigen, die vor ihr an dem Fall gearbeitet hatten – dazu gehörte wahrscheinlich auch Bryers – hatten diese Arbeit schon erledigt. Deshalb versuchte sich Mackenzie, auf das zu konzentrieren, was noch schleierhaft und womöglich übersehen worden war.
Nachdem sie sich die unmittelbare Umgebung etwa eine Minute lang angesehen hatte, war Mackenzie der Meinung, dass sie alles wusste, was es zu wissen gab. Bis jetzt war das allerdings nicht sonderlich viel.
„Sagen Sie mir“, forderte Bryers sie auf. „Was meinen Sie, warum der Mörder die Leichen hier ablegt? Welche Bedeutung hat das für ihn?“
„Ich glaube nicht, dass es reine Bequemlichkeit ist“, antwortete Mackenzie. „Ich denke, er versucht, auf Nummer sicher zu gehen. Er lässt die Leichen hier zurück, weil er sie loswerden will. Ich schätze auch, dass er in der Nähe lebt…nicht weiter als zwanzig oder dreißig Meilen entfernt. Ich glaube nicht, dass er so weit fahren würde, um eine Leiche loszuwerden…vor allem bei Nacht.“
„Warum bei Nacht?“, fragte Bryers.
Mackenzie wusste, dass er sie testete, aber das machte ihr nichts aus. Im Angesicht der unglaublichen Chance, die ihr gegeben worden war, hatte sie schon mit ein paar Sticheleien gerechnet.
„Weil es für ihn praktisch nur nachts möglich gewesen ist. Es wäre ziemlich dumm, hier bei Tageslicht eine Leiche abzulegen, wenn es nur so von Arbeitern wimmelt.“
„Dann denken Sie also, dass er schlau ist?“
„Nicht unbedingt. Er ist vorsichtig und sorgsam. Das ist nicht das Gleiche wie schlau.“
„Ich habe bemerkt, dass Sie sich nach Reifenabdrücken umgesehen haben“, meinte er. „Das haben wir bereits versucht und nichts gefunden. Es gibt einfach zu viele von ihnen.“
„Ja, das wäre schwierig“, entgegnete sie. „Wie gesagt, der Körper muss außerhalb der Betriebszeiten hier abgelegt worden sein. Ist das auch Ihre Annahme?“
„Ja, das ist sie.“
„Dann gibt es also keine brauchbaren Abdrücke“, fasste Mackenzie noch einmal zusammen.
Er lächelte sie an. „Das stimmt“, meinte er. „Zumindest keine Reifenabdrücke. Aber Fußabdrücke vielleicht. Nicht, dass das von Bedeutung wäre, es gibt einfach zu viele von ihnen.“
Mackenzie nickte und fühlte sich dumm, solch offensichtliche Fakten übersehen zu haben. Aber jetzt gerade brachte sie das auf einen neuen Gedanken.
„Nun ja, er wird die Leiche wohl kaum über der Schulter getragen haben“, bemerkte Mackenzie. „Seine Reifenabdrücke müssen irgendwo sein. Nicht hier, aber vielleicht direkt vor dem Tor. Wir könnten dann versuchen, die Abdrücke, die vor dem Tor aufhören, mit denen hier zu vergleichen. Wir könnten sogar direkt am Rand des Zaunes nachschauen, ob es irgendwelche Hinweise gibt, wo er den Körper möglicherweise hinübergeworfen hat.“
„Das ist ein guter Gedanke“, entgegnete Bryers offensichtlich amüsiert. „Dieses Detail haben die Leute der Spurensicherung erkannt, ich jedoch übersehen. Aber ja, Sie haben Recht. Er hätte sein Auto vor dem Tor abstellen müssen. Dann denken Sie also, dass die Spur, die vor dem Tor aufhört und dann wieder in die entgegengesetzte Richtung davonfährt, von unserem Täter stammen könnte.“
„Das könnte sein“, antwortete Mackenzie.
„Sie denken schon in die richtige Richtung, haben allerdings noch nichts Neues entdeckt. Was haben Sie sonst noch drauf?“
Er war nicht unhöflich oder respektlos, das erkannte sie schon an seinem Ton. Er wollte sie einfach nur anstacheln und zum Weitermachen motivieren.
„Wissen wir, wie viele Fahrzeuge jeden Tag hier durchfahren?“
„Ungefähr eintausendeinhundert oder so“, antwortete Bryers. „Trotzdem, wenn wir die Abdrücke abgleichen, die sich dem Tor nähern und dann einfach aufhören…“
„Es wäre ein Anfang.“
„Das hoffen wir“, meinte Bryers. „Seit gestern Nachmittag arbeitet ein Team daran, doch bis jetzt haben wir immer noch keine neuen Spuren.“
„Ich könnte mich einmal umschauen, wenn Sie möchten“, bot sich Mackenzie an.
„Das wäre viel zu anstrengend“, widersprach Bryers. „Sie arbeiten jetzt mit dem FBI, Ms. White. Überanstrengen Sie sich nicht, wenn es ein anderes Team gibt, das sich mit der Sache besser auskennt.“
Mackenzie schaute zurück in die Grube und versuchte, in dem Berg aus zusammengepresstem Müll die Lösung zu finden. Eine junge Frau war hier vor kurzem nackt und mit leichten Hämatomen gelegen. Sie war an demselben Ort abgelegt worden, an dem die Menschen ihren Müll sowie Dinge entsorgten, die sie nicht mehr brauchten. Vielleicht dachte der Mörder, dass die Frauen, die er umgebracht hatte, nicht mehr Wert waren als gewöhnlicher Hausmüll.
Sie wünschte sich fast, hier gewesen zu sein, als Bryers und sein bald in den Ruhestand gehender Freund angekommen waren. Vielleicht hätte sie dann mehr Ansatzpunkte. Vielleicht könnte sie Bryers dann dabei helfen, einen Verdächtigen ausfindig zu machen. Aber für jetzt hatte sie fürs Erste ihr Können recht schnell bewiesen, da ihr die Situation mit den Reifenabdrücken aufgefallen war.
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