„Nein. Ich habe ein Extratraining absolviert.“
„Natürlich hast du das.“
„Was soll das heißen?“, wollte Mackenzie wissen. Sie und Colby kannten sich recht gut, auch wenn sie sich nicht gerade als Freunde bezeichnen würde. Sie war sich nie sicher, wann Colby lustig sein oder sie provozieren wollte.
„Es heißt, dass du sehr ehrgeizig bist und immer mehr tust als von dir verlangt wird“, erklärte Colby.
„Ertappt.“
„Was hast du vor?“, fragte Colby. Dann deutete sie auf die Kekse in Mackenzies Hand. „Ist das etwa dein Mittagessen?“
„Ja“, erwiderte sie. „Erbärmlich, nicht wahr?“
„Nur ein wenig. Warum gehen wir nicht zusammen etwas essen? Pizza hört sich toll an.“
Auch Mackenzie hatte Hunger auf Pizza, doch sie hatte keine Lust auf Small Talk, vor allem nicht mit einer Frau, die sich zu sehr auf Tratsch konzentrierte. Aber auf der anderen Seite wusste sie auch, dass sie mehr in ihrem Leben als nur Training, Extratraining und die Einsamkeit in ihrem Apartment brauchte.
„Ja, warum nicht“, entgegnete Mackenzie.
Es war ein kleiner Sieg, sie verließ ihre Komfortzone und versuchte, an diesem neuen Ort, in diesem neuen Kapitel ihres Lebens Freunde zu finden. Doch mit jedem Schritt öffnete sich ihr eine neue Seite und sie konnte es kaum abwarten, diese auszufüllen.
*
Donnie’s Pizza Place war nur halbvoll, als Mackenzie und Colby am Nachmittag eintraten, da die Mittagskundschaft so langsam wieder aufbrach. Sie setzten sich an einen Tisch im hinteren Bereich des Lokals und bestellten Pizza. Mackenzie ließ es zu, sich zu entspannen und ihre schmerzenden Arme und Beine auszuruhen, doch das würde sie nicht lange genießen können.
Colby rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne und seufzte. „Können wir bitte den Elefanten im Raum aus dem Weg schaffen?“
„Es gibt einen Elefanten?“, fragte Mackenzie.
„Ja“, erwiderte Colby. „Aber er ist ganz schwarz angezogen und passt sich die meiste Zeit gut an.“
„Okay“, meinte Mackenzie. „Dann erklär mir diesen Elefanten. Und sag mir, warum du ihn bis jetzt noch nicht erwähnt hast.“
„Ich habe dir nie gesagt, dass ich wusste, wer du warst, als du hier ankamst. Genau wie jeder andere. Es wurde viel darüber getuschelt. Und deshalb habe ich dir bis jetzt noch nichts gesagt. Doch jetzt, da unser Training so langsam zu Ende geht, weiß ich nicht, wie es die Dinge beeinflussen wird.“
„Was für ein Gerede?“, wollte Mackenzie wissen, obwohl sie sich schon ziemlich sicher war, dass sie wusste, in welche Richtung es ging.
„Nun ja, größtenteils geht um den Vogelscheuchen-Mörder und die bescheidene, kleine Frau, die ihn zur Strecke gebracht hat. Eine kleine Frau, die solch ein guter Detective in Nebraska war, dass sie vom FBI persönlich rekrutiert wurde.“
„Das ist zwar eine recht glorifizierte Version, aber ja…ich erkenne den Elefanten. Du hast gesagt, größtenteils. Gibt es denn noch mehr?“
Plötzlich schien sich Colby nicht sehr wohl zu fühlen. Sie steckte sich nervös eine Strähne ihres braunen Haares hinter das Ohr. „Nun ja, es gibt Gerüchte. Ich habe gehört, dass ein Agent sein Wort für dich im Vorstand eingelegt hat. Und…naja, wir befinden uns nun einmal in einer Umgebung, die von Männern dominiert wird. Du kannst dir vorstellen, in welche Richtung die Gerüchte gehen.“
Mackenzie verdrehte die Augen, die Situation war ihr peinlich. Sie hatte sich immer gefragt, welche Gerüchte hinter vorgehaltener Hand über sie und Ellington, dem Agenten, der eine große Rolle bei ihrer Aufnahme ins FBI gespielt hatte, im Umlauf waren.
„Tut mir leid“, sagte Colby. „Hätte ich besser nichts sagen sollen?“
Mackenzie zuckte mit den Schultern. „Es ist in Ordnung. Ich schätze, wir alle haben unsere Vergangenheit.“
Colby, die spürte, dass sie womöglich zu viel gesagt hatte, schaute auf den Tisch und nippte nervös an ihrem Getränk. „Tut mir leid“, erwiderte sie leise. „Ich dachte nur, dass du davon wissen solltest. Du bist die erste richtige Freundin, die ich hier gemacht habe, und ich wollte so offen wie möglich sein.“
„Das geht mir genauso“, entgegnete Mackenzie.
„Dann ist zwischen uns also alles in Ordnung?“, fragte Colby.
„Ja. Wie wäre es, wenn wir jetzt über ein anderes Thema reden?“
„Oh, kein Problem“, meinte Colby. „Erzähl mir von dir und Harry.“
„Harry Dougan?“, versicherte sich Mackenzie.
„Ja. Der zukünftige Agent, der dich jedes Mal, wenn ihr in einem Raum seid, mit den Augen ausziehen will.“
„Da gibt es nichts zu erzählen“, wehrte Mackenzie ab.
Colby lächelte und verdrehte die Augen. „Wenn du meinst.“
„Nein, wirklich. Er ist nicht mein Typ.“
„Vielleicht bist du auch nicht sein Typ“, spekulierte Colby. „Vielleicht will er dich einfach nur nackt sehen. Ich frage mich…was für ein Typ bist du eigentlich? Ich wette auf tief und psychologisch.“
„Wie kommst du darauf?“, wollte Mackenzie wissen.
„Wegen deiner Interessen und deiner Neigung, in allen Profiling-Kursen und Übungsszenarien hervorzustechen.“
„Ich glaube, das ist ein häufiger Irrglaube über jeden, der sich für Profiling interessiert“, erwiderte Mackenzie. „Wenn du einen Beweis brauchst, kann ich dir mindestens drei ältere Männer der Staatspolizei Nebraskas nennen.“
Danach unterhielten sie sich über banale Dinge – ihren Unterricht, ihre Ausbilder und so weiter. Doch die ganze Zeit über schmorte Mackenzie innerlich. Die Gerüchte, die Colby erwähnt hatte, waren genau der Grund, warum sie sich möglichst unauffällig verhielt. Sie hatte sich nicht bemüht, Freunde zu finden – eine Entscheidung, durch die sie eigentlich mehr als genug Zeit gehabt hatte, ihre Wohnung fertig einzurichten.
Und alles nur wegen Ellington…dem Mann, der nach Nebraska gekommen und ihre Welt verändert hatte. Es hörte sich wie ein Klischee an, aber genau das war geschehen. Und die Tatsache, dass sie ihn immer noch nicht aus dem Kopf bekam, war etwas erschreckend.
Sogar als sie sich mit Colby nett unterhielt und sie zusammen aßen, fragte sich Mackenzie, was Ellington wohl gerade tat. Sie fragte sich auch, was sie jetzt tun würde, wenn er bei ihrem Versuch, den Vogelscheuchen-Mörder zu fassen, nicht nach Nebraska gekommen wäre. Das war keine schöne Vorstellung, wahrscheinlich würde sie immer noch diese qualvoll geraden Straßen entlangfahren, die entweder vom Himmel, den Feldern oder Mais umgeben waren. Außerdem würde sie vermutlich mit einem chauvinistischen Idioten ein Team bilden, der einfach nur eine jüngere und dickköpfigere Version Porters, ihres ehemaligen Teampartners war.
Sie vermisste Nebraska nicht. Sie vermisste nicht die Routine ihres Jobs, den sie dort ausgeübt hatte, und sie vermisste definitiv nicht die dort vorherrschende Geisteshaltung. Was sie jedoch vermisste war das Wissen, dass sie dazu passte. Sogar mehr noch, in Nebraska hatte sie zu den hochrangigsten Mitarbeitern in der Polizeiwache gehört. Hier in Quantico war das anders. Hier hatte sie eine riesige Konkurrenz und sie musste darum kämpfen, ganz oben zu bleiben.
Glücklicherweise war sie für diese Herausforderung mehr als bereit und war froh, den Vogelscheuchen-Mörder und ihr Leben vor dessen Festnahme hinter sich zu lassen.
Wenn sie nur noch diese Alpträume verhindern könnte.
Der nächste Morgen begann schon früh mit Waffentraining, einer Disziplin, in der Mackenzie recht begabt war. Sie hatte schon immer gut schießen können, aber mit der richtigen Anleitung und einer Klasse, in der zweiundzwanzig weitere ehrgeizige Anwärter mit ihr konkurrierten, war sie unheimlich gut geworden. Sie zog immer noch die Sig Sauer vor, die sie in Nebraska verwendet hatte, und hatte sich gefreut, dass die Standartwaffe des FBI eine Glock war, die sich nicht zu sehr von ihr unterschied.
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