„Ich sag Ihnen was“, meinte er. „Ich muss in zehn Minuten los. Wenn Sie mich in dieser Zeit überzeugen können, haben Sie einen neuen Kunden gewonnen. Hauptsache, ich muss nicht wieder zurück ins Fitnessstudio.“
„Ausgezeichnet“, entgegnete sie, während sie beim Klang ihrer künstlich aufgedrehten Stimme innerlich zusammenzuckte.
Der Mann trat beiseite und winkte sie ins Haus. „Kommen Sie rein“, sagte er.
Sie ging hinein und betrat ein kleines Wohnzimmer. Ein antik wirkender Fernseher stand mit einem verkratzten Unterhaltungscenter in der Mitte. In den Ecken des Raumes gab es ein paar alte, staubige Sessel sowie ein ausgesessenes Sofa. Überall fanden sich Keramikfiguren und Zierdeckchen. Es schaute mehr wie das Haus einer alten Frau aus als das eines alleinstehenden Mannes in seinen Vierzigern.
Aus irgendeinem Grund läuteten ihre innerlichen Alarmglocken. Doch dann versuchte sie, ihre Angst mit unsicherer Logik zu vertreiben. Entweder er ist extrem seltsam, oder das hier ist nicht sein Haus. Vielleicht lebt er bei seiner Mutter.
„Ist hier in Ordnung?“, fragte sie, während sie auf den Kaffeetisch vor der Couch deutete.
„Ja, dort ist perfekt“, antwortete der Mann. Er lächelte sie an und schloss die Tür hinter sich.
Sobald diese ins Schloss fiel, spürte Susan, wie sich etwas in ihrem Magen rührte. Es fühlte sich so an, als wäre der Raum plötzlich kalt geworden und als ob all ihre Sinne darauf reagieren würden. Etwas stimmte nicht. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Sie schaute die Keramikfigur an, die ihr am nächsten stand – es war ein kleiner Junge, der einen Wagen zog – als ob sie ihr eine Antwort geben könnte.
Sie beschäftigte sich damit, ihren Aktenkoffer zu öffnen, und nahm ein paar Packungen des Proteinpulvers sowie ein gratis Minimixer (mit einem Verkaufswert von $35, doch bei der ersten Bestellung bekam man einen kostenlos hinzu) heraus, um sich abzulenken.
„Also“, sagte sie, wobei sie versuchte, ruhig zu bleiben und das Schaudern zu ignorieren, dass sie immer noch verspürte. „Interessieren Sie sich mehr für das Abnehmen, die Gewichtszunahme oder möchten Sie Ihre aktuelle Körperform behalten?“
„Ich bin mir nicht sicher“, meinte der Mann, der sich die Waren auf dem Kaffeetisch anschaute. „Was würden Sie denn empfehlen?“
Susan hatte Schwierigkeiten, zu reden. Ihr Herz schlug schnell in ihrer Brust. Hatte er die Tür beim Zumachen abgeschlossen? Sie konnte es von ihrem Platz aus nicht erkennen.
Dann wurde ihr klar, dass der Mann immer noch auf eine Antwort wartete. Sie schüttelte die Spinnenweben ab und versuchte, zurück in ihre Verkäuferrolle zu schlüpfen.
„Nun ja, ich weiß nicht so recht“, sagte sie.
Sie wollte wieder zur Tür schauen. Plötzlich schien es ihr, als würden sich all die künstlichen Augen der Porzellanfiguren in dem Raum auf sie richten, genau wie die Augen eines Jägers auf seine Beute.
„Ich ernähre mich nicht allzu schlecht“, sagte der Mann. „aber ich habe eine Schwäche für Zitronenkuchen. Könnte ich den bei Ihrem Programm trotzdem noch essen?“
„Womöglich“, erwiderte sie, während sie ihre Utensilien durchwühlte und den Koffer näher zu sich heranzog. Zehn Minuten, dachte sie, wobei sie sich mit jeder Minute unwohler fühlte. Er sagte, dass er nur zehn Minuten hätte. So lange kann ich durchhalten.
Sie fand das kleine Heftchen, das dem Mann aufzeigen würde, was er mit dem Programm essen könnte, und schaute auf, um es ihm zu geben. Als er es nahm, berührten sich ihre Finger für einen kurzen Moment.
Wieder läuteten Alarmglocken in ihrem Kopf. Sie musste hier raus. Noch nie hatte sie beim Betreten der Wohnung eines potentiellen Kunden etwas Derartiges gespürt, aber das Gefühl war so überwältigend, dass sie an nichts Anderes mehr denken konnte.
„Es tut mir leid“, sagte sie, während sie ihre Utensilien zurück in den Koffer packte. „Aber mir fällt gerade wieder ein, dass ich in weniger als einer Stunde ein Meeting habe, und zwar am anderen Ende der Stadt.“
„Oh“, meinte er und sah sich das Heftchen an, das sie ihm gerade gegeben hatte. „Das verstehe ich. Ich hoffe, dass Sie es noch rechtzeitig schaffen.“
„Danke“, entgegnete sie schnell.
Er gab ihr das Heftchen zurück, das sie mit zitternder Hand entgegennahm, bevor sie es in den Koffer steckte und zur Eingangstür ging.
Doch diese war verschlossen.
Mit der Hand auf dem Türknauf drehte sich Susan um.
Sie sah den Schlag kaum kommen. Alles, was sie sah, war eine weiße Faust, die auf ihren Mund stieß. Sofort spürte sie, wie das Blut floss, denn sie konnte es auf der Zunge schmecken, und fiel direkt zurück auf die Couch.
Als sie ihren Mund zum Schreien öffnen wollte, hatte sie das Gefühl, als ob die rechte Seite ihres Kiefers blockiert wäre. Sie versuchte, zurück auf die Füße zu kommen, doch der Mann war schon wieder über ihr und stieß ihr diesmal ein Knie in den Bauch, was ihr den Atem aus den Lungen drückte. Sie konnte nichts weiter tun, außer sich zusammenzurollen und nach Luft zu schnappen. Währenddessen bekam sie am Rande mit, dass der Mann sie hochhob und über seine Schulter warf, als ob sie eine hilflose Neandertalerin wäre, die gerade zurück in seine Höhle geschleppt wurde.
Sie versuchte erneut, sich gegen ihn zu wehren, aber sie konnte immer noch nicht richtig einatmen. Sie fühlte sich gelähmt, wie eine Ertrinkende. Sowohl ihr Gehirn als auch ihr ganzer Körper waren schlaff und willenlos. Von ihrem Gesicht aus tropfte Blut auf die Rückseite seines T-Shirts und als er sie durch das Haus trug, konnte sie sich auf nichts Anderes konzentrieren.
Irgendwann bekam sie mit, dass er sie in ein anderes Gebäude getragen hatte – in ein Haus, das auf irgendeine Weise mit dem verbunden war, in welchem sie sich noch vor wenigen Augenblicken befunden hatte. Sie wurde wie ein Sack Mehl auf den Boden geworfen, wobei sie sich den Kopf an dem zerkratzten Linoleumboden anschlug. In ihren Augen tauchten vor lauter Schmerz weiße Punkte auf, als sie endlich in der Lage war, flach zu atmen. Sie rollte sich herum, aber gerade als sie es geschafft hatte, auf die Beine zu kommen, war er wieder da.
Seine Augen waren nun verhangen, doch sie konnte genug erkennen, um zu sehen, dass er eine Tür geöffnet hatte, die sich hinter einer falschen Wandvertäfelung versteckte. Der Raum war dunkel und mit Staub sowie einer bauschigen Dämmung, die in zerrissenen Streifen von der Decke hing, ausgekleidet. Als ihr klar wurde, dass er vorhatte, sie dort hinein zu bringen, schlug ihr Herz so stark gegen die Brust, als ob es durch ihre Rippen brechen wollte.
„Hier drinnen bist du sicher“, sagte der Mann, während er sich vorbeugte und sie in den niedrigen Raum zog.
Schließlich lag sie im Dunkeln auf dem harten Holzboden. Der Geruch nach Staub und ihrem eigenen Blut, das immer noch aus ihrer gebrochenen Nase rann, erfüllte den Raum. Dieser Mann…sie wusste, wie er hieß, konnte sich im Moment aber nicht mehr daran erinnern, denn sie wurde von Blut und Schmerz erfüllt – einem stechenden, beengenden Schmerz in ihrer Brust – während sie weiterhin um ihren Atem kämpfte.
Als sie es endlich schaffte, einzuatmen, wollte sie die Luft zum Schreien verwenden. Doch stattdessen floss sie in ihre Lungen und belebte ihren Körper. In diesem kurzen Moment der körperlichen Erleichterung hörte sie, wie die Tür der kleinen Kammer irgendwo hinter ihr geschlossen wurde, dann gab es nur noch Dunkelheit.
Das letzte, was sie hörte, bevor die Welt schwarz wurde, war sein Lachen direkt vor der Tür.
„Keine Sorge“, meinte er. „Es wird bald vorbei sein.“
Der Regen prasselte beständig hinab, gerade laut genug, sodass Mackenzie White ihre eigenen Schritte nicht hören konnte. Das war gut, denn es bedeutete, dass sie der Mann, den sie verfolgte, ebenfalls nicht hören konnte.
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