Sie starrte auf das Papierziel am Ende des Schießkorridors. Ein langer Streifen Papier hing von einer mechanischen Stange fast zwanzig Meter von ihr entfernt. Sie zielte, feuerte dreimal schnell hintereinander ab und legte ihre Waffe nieder. Das Vibrieren der Schüsse vibrierte in ihren Händen nach, ein Gefühl, dass sie mittlerweile genoss.
Als das grüne Lichte am Ende des Korridors aufleuchtete, drückte sie einen Knopf auf dem Steuerkasten, um sie das Papierziel zu sich heran zu holen, das den Torso eines Menschen darstellte. Zwei Schüsse hatten den oberen Bereich der Brust getroffen, während der dritte die linke Schulter gestreift hatte. Die Schüsse waren ganz in Ordnung (jedoch nicht perfekt) und obwohl sie mit den über die Brust verstreuten Schüssen nicht zufrieden war, wusste sie, dass das Ergebnis nun viel besser war als bei ihrem ersten Schießtraining.
Elf Wochen. Sie war schon seit elf Wochen hier und lernte immer noch dazu. Sie war mit den verteilten Schüssen unzufrieden, weil diese fatal sein könnten. Sie war darauf trainiert worden, nur zu schießen, um einen Verdächtigen festnehmen zu können und um ihm unter schlimmsten Umständen mit einem Schuss in die Brust oder den Kopf das Leben zu nehmen.
Ihre Instinkte verbesserten sich. Sie lächelte das Papierziel an, dann schaute sie auf das kleine Schaltkästchen vor ihr, wo eine Schachtel voller Munition auf sie wartete. Sie lud die Glock nach und ließ ein neues Ziel herunter. Diesmal stellte sie die Entfernung auf etwa zweiundzwanzig Meter ein.
Sie wartete, bis das rote Licht an der Schalttafel grün wurde, bevor sie sich umdrehte. Sie holte tief Luft, wirbelte herum und feuerte wieder dreimal ab.
Diesmal waren eine glatte Reihe von drei Eintrittslöchern knapp unterhalb der Schulter zu sehen.
Viel besser, dachte Mackenzie.
Zufrieden nahm sie ihre Schutzbrille und Ohrschützer ab. Dann räumte sie ihre Station auf und drückte auf einen anderen Knopf des Schaltboards, wodurch das Ziel mithilfe des elektrischen Zugsystems nach vorne gezogen wurde. Sie nahm das Papier ab, faltete es und steckte es in den kleinen Rucksack, den sie so ziemlich überall mit hinnahm.
Sie hatte ihre Freizeit dazu genutzt, um ihre Fähigkeiten, bei denen sie das Gefühl hatte, den anderen in ihrer Klasse nachzustehen, im Übungsbereich zu schulen. Sie war eine der ältesten unter den Auszubildenden und es hatten sich bereits Gerüchte verbreitet, dass sie persönlich aus einer miserablen und kleinen Polizeistation in Nebraska hierhergeholt worden war, kurz nachdem sie den Fall um den Vogelscheuchen-Mörder gelöst hatte. Im Moment befanden sich ihre Leistungen was die Handhabung von Waffen anging im mittleren Bereich ihrer Klasse, doch sie war entschlossen, am Ende ihrer Ausbildung die Beste zu sein.
Sie musste sich selbst beweisen. Aber das machte ihr nichts aus.
*
Nach ihrer morgendlichen Schießübung ging Mackenzie direkt zu ihrem letzten Kurs, den sie in einem Klassenverband absolvieren musste. Es war ein Psychologieunterricht, der von Samuel McClarren, einem sechzig Jahre alten früheren Agenten und Bestseller-Autoren, der bereits sechs New York Times Bestseller über das psychologische Profil einiger der grausamsten Serienkiller des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht hatte, gehalten wurde. Mackenzie hatte alles, was dieser Mann geschrieben hatte, gelesen und konnte seinen Vorträgen stundenlang zuhören. Es war mit Abstand ihr Lieblingskurs und auch obwohl sie von dem stellvertretenden Direktor aufgrund ihres Lebenslaufes und ihres beruflichen Werdeganges von der Teilnahme des Kurses befreit worden war, hatte sie begeistert die Chance ergriffen, seinen Unterricht zu besuchen.
Wie immer war sie eine der ersten in der Klasse und saß weit vorne. Als sie ihr Notizheft und einen Stift herausholte, kamen immer mehr ihrer Kollegen herein und schalteten ihre MacBooks an und Samuel McClarren betrat das Podium. Hinter Mackenzie warteten zweiundvierzig Auszubildende eifrig auf den Beginn des Vortrags, jeder einzelne von ihnen schien von seinen Worten fasziniert zu sein.
„Gestern haben wir uns, sehr zur Freude der Teilnehmer unter Ihnen mit einem schwachen Magen, bereits mit den psychologischen Windungen beschäftigt, von denen wir ausgehen, dass sie Ed Gein angetrieben haben,“, begann McClarren. „Und heute wird es nicht viel besser werden, da wir uns mit der oft unterschätzten und doch unwiderstehlich verqueren Denkweise des John Wayne Gacy auseinandersetzen werden. Sechsundzwanzig nachgewiesene Opfer, die entweder stranguliert oder mithilfe eines Stauschlauches erstickt wurden. Er verteilte die Opfer, nachdem er sie ermordet hatte, an verschiedenen Stellen zwischen den Brettern unter seinem Haus bis hin zum Des Plaines Fluss. Und natürlich, daran denken die meisten Menschen, wenn sie seinen Namen hören, das Clown Make-up. Der Fall Gacy strotzt nur so vor psychologischer Störungen.“
Der Rest der Vorlesung folgte diesem Muster, was bedeutete, dass McClarren sprach und die Schüler eifrig mitschrieben. Wie immer vergingen die eineinviertel Stunden wie im Flug und Mackenzie sehnte sich danach, noch mehr zu hören. Hin und wieder hatten McClarrens Vorlesungen Erinnerungen an die Jagd auf den Vogelscheuchen-Mörder geweckt, vor allem an die Zeit, als sie während der Ermittlungen die Tatorte noch einmal besucht hatte, um sich in den Kopf des Mörders zu versetzen. Sie wusste, dass sie eine gewisse Neigung für so etwas hatte, was sie jedoch niemanden wissen ließ. Manchmal jagte ihr diese Neigung selber Angst ein und sie wusste, wie makaber sie war, weshalb sie niemandem davon erzählte.
Als die Vorlesung vorüber war, packte Mackenzie ihre Sachen zusammen und ging zur Tür. Als sie hinaus in den Gang trat und immer McClarrens Worte verarbeitete, sah sie den Mann nicht, der neben der Tür stand. Sie bemerkte ihn sogar erst dann, als er ihren Namen rief.
„Mackenzie! Hey, warten Sie.“
Sie blieb stehen, als sie ihren Namen hörte, und als sie sich umdrehte, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht in der Menge.
Agent Ellington folgte ihr. Ihn zu sehen war solch eine Überraschung, dass sie einen Moment lang praktisch regungslos dastand und versuchte, eine Erklärung für sein Auftauchen zu finden. Da sie wie versteinert stehen blieb, schenkte er ihr ein schüchternes Lächeln und trat schnell an sie heran. Ein weiterer Mann folgte ihm.
„Agent Ellington“, sagte Mackenzie. „Wie geht es Ihnen?“
„Gut“, antwortete er. „Und selbst?“
„Ziemlich gut. Was tun Sie hier? Machen Sie einen Auffrischungskurs?“, fragte sie in dem Versuch, der Situation ein wenig Humor zu verleihen.
„Nein, nicht wirklich“, erwiderte Ellington. Er schenkte ihr ein weiteres Lächeln, das sie wieder daran erinnerte, warum sie sich vor drei Monaten an ihn herangemacht und sich blamiert hatte. Er deutete auf den Mann und sagte: „Mackenzie White, ich würde Ihnen gerne Special Agent Bryers vorstellen.“
Bryers trat vor und streckte ihr die Hand entgegen. Mackenzie schüttelte sie und nutzte den Moment, um den Mann zu mustern. Er sah aus, als wäre er in seinen frühen Fünfzigern, hatte einen größtenteils grauen Schnurrbart und freundliche, blaue Augen. Sie erkannte sofort, dass er vermutlich sanftmütig und ein echter Südstaaten-Gentleman war, von denen sie schon so viel gehört hatte, seit sie nach Virginia gezogen war.
„Schön, Sie zutreffen“, sagte Bryers, während er ihre Hand schüttelte.
Nun, da sie einander vorgestellt waren, kam Ellington wieder zur Sache. „Haben Sie gerade viel zu tun?“, fragte er Mackenzie.
„Im Moment nicht“, antwortete sie.
„Nun ja, wenn Sie einen Augenblick Zeit hätten, würden Agent Bryers und ich gerne etwas mit Ihnen besprechen.“
Bei diesen Worten sah Mackenzie, wie sich ein Funke Zweifel auf Bryers Gesicht schlich. Bei näherer Betrachtung machte er sogar den Eindruck, als würde er sich nicht ganz wohl fühlen. Vielleicht wirkte er deshalb so zurückhaltend.
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