Aber er suchte noch jemanden. Chris und seine Spießgesellen. Sie hatten ihn im Sturm verfolgt, bis er sich in einer verbeulten Mülltonne versteckt hatte. Sie hatten ihn beschimpft, ihm gedroht und sich über ihn lustig gemacht.
Jetzt sahen sie ihn auch. Das gemeine Mädchen mit den dicken Zöpfen grinste höhnisch. Sie stieß den sommersprossigen, schlaksigen Jungen an, der nur gelacht hatte, als Chris ihn in den Schwitzkasten genommen und gequält hatte. Zuletzt hatten sie ihn in einen gefährlichen Sturm gescheucht und alleine zurückgelassen. Dass sie ihn jetzt auch noch dumm angrinsten, brachte Olivers Blut zum Kochen.
Als Chris ihn bemerkte, sah Oliver einen Anflug von Furcht in seinen Augen, auch wenn er sich hier in der Gesellschaft seiner gemeinen Freunde anscheinend sicher fühlte.
Es fiel Oliver nicht schwer, ihm an den Lippen abzulesen, was er zu seinen fiesen Freunden sagte.
„Seht nur, die kleine Ratte ist zurück!“
Oliver konzentrierte sich auf ihren Tisch und sammelte seine Kräfte.
Ihre Teller begannen zu schweben. Das Mädchen sprang erschrocken auf.
„Was ist hier los?“
Die beiden anderen sprangen auch ängstlich zurück. Auch Chris war aufgesprungen, aber er sah nicht besonders erschrocken aus.
Eher wütend.
Die anderen Kinder drehten sich um und versuchten zu sehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte. Als sie bemerkten, dass die Teller wie durch Geisterhand in der Luft schwebten, verbreitete sich Panik im Saal.
Oliver ließ die Teller höher und höher steigen. Als sie direkt über den Köpfen der Spießgesellen waren, drehte er sie um.
Sofort regnete lauwarmes Essen auf sie herab.
Mal sehen wie es euch gefällt, mit Essensresten verschmiert zu sein, dachte Oliver.
Schon brach der Tumult aus. Kinder schrien und rannten schubsend zu den Ausgängen.
Einer der Fieslinge, der von oben bis unten mit Kartoffelstampf beschmiert war, rutschte auf ein paar Bohnen aus und lag jetzt ausgestreckt auf dem Boden. Ein anderes Kind stolperte über ihn.
Durch das Chaos sah Oliver Chris auf der anderen Seite der Aula stehen. Er fixierte ihn aus schmalen Augen. Sein Gesicht war rot vor Wut. Er stieß ein paar Kinder mit den Ellbogen zur Seite und wirkte noch wuchtiger als sonst.
Obwohl er Oliver damit einschüchtern wollte, ließ dieser sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Du!“, bellte Chris. „Ich weiß, dass du das warst! Du hast irgendwelche bösen Zauberkräfte! Du Freak!“
Dann ging er auf Oliver los.
Doch der war ihm bereits zwei Schritte voraus. Er streckte die Hände aus und ließ eine dicke Ölschicht vor Chris auf dem Boden entstehen. Chris rutschte und ruderte mit den Armen, bis er endgültig das Gleichgewicht verlor und mit dem Hintern auf den Boden knallte. Er rutschte über die Ölschicht auf Oliver zu wie auf einer Wasserrutsche.
Oliver drückte die Tür auf und Chris schlitterte an ihm vorbei. Schreiend wurde er auf der unsichtbaren Schmiere immer weiter getragen, über den Pausenhof, auf die Straße.
„Bye bye!“, rief Oliver ihm nach und winkte.
Er hoffte, dass er Christopher Blue nie wieder sehen würde.
Dann schloss er die Tür wieder und ging mit festen Schritten durch die chaotische Aula und durch die finsteren Gänge der Campbell Junior High. Er fühlte sich großartig. Es hätte gar nicht besser laufen können.
Als er den Ausgang erreichte, stieß er die Türen mit beiden Händen auf. Ein frischer Windhauch wehte ihm ins Gesicht. Oliver atmete tief ein.
Dann sah er sie.
Sie stand an der untersten Stufe und blickte zu ihm auf. Schwarzes Haar. Smaragdgrüne Augen.
Oliver konnte es kaum glauben. Sein Herz machte einen Freudensprung und schlug ihm bis zum Hals. Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie…?
Warum…?
Seine Handflächen wurden feucht und er spürte einen Kloß im Hals.
Ihre Schönheit raubte ihm den Atem.
Vor ihm stand Esther Valentini.
„Esther!“, rief Oliver.
Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. Er konnte kaum glauben, dass sie hier war.
„Oliver“, sagte sie lächelnd. Dann warf sie ihre Arme um seinen Hals. „Ich habe dich gefunden!“ Ihre Stimme war süß wie Honig. Oliver drückte sie fest an sich. Sie fühlte sich wunderbar an. Er hätte nicht gedacht, dass er sie so schnell wiedersehen würde.
Aber dann löste er sich von ihr. „Warum bist du hier?“, fragte er alarmiert.
Esther grinste ihn verschmitzt an. „Es gibt eine Zeitmaschine in der Schule. Der Zugang ist im Kapokbaum versteckt und mit einem kleinen X markiert. Eigentlich heißt das ja, dass nur Lehrern den Zutritt gewährt ist. Ich habe gleich vermutet, dass es ein Portal ist. Ich habe mich in einem unbewachten Moment hingeschlichen. Natürlich dürfen wir sie eigentlich nicht benutzen, aber das Risiko war es mir wert.“
Oliver schüttelte den Kopf. Er hätte sich denken können, dass die schlaue Esther einen Weg finden würde, zu ihm zu gelangen. Aber niemand würde einfach so in eine falsche Zeit reisen, nicht ohne einen triftigen Grund. An der Schule für Seher hatte er gelernt, dass es eine echte Belastung für den Körper sein konnte, wenn man zu lange in einer falschen Zeitachse verweilte. Das hatte er auch selbst gespürt, als er aus der Vergangenheit zurückgekehrt war. Selbst jetzt spürte er die Auswirkungen der Zeitreise noch, obwohl er wieder in seiner eigentlichen Zeit angekommen war.
Dazu kam noch das Risiko, dass Esther unter Umständen nicht mehr in die Schule zurückkehren durfte. Es hatte ihm fast das Herz gebrochen, als er gehen musste, und er hätte es nie getan, wenn es nicht um Armandos Leben gegangen wäre. Was hatte also Esther dazu bewogen, ihm nachzureisen? Vielleicht eine Aufgabe? Eine Mission? War die Schule womöglich in Gefahr?
„Es ist wirklich schön, dich zu sehen, aber warum bist du hier, Esther?“
Esther lächelte. „Du hast mir doch ein zweites Date versprochen.“
Erstaunt sah er sie an. „Du bist meinetwegen gekommen?“
Sie war das Risiko eingegangen, für immer von der Schule ausgeschlossen zu werden und in einer falschen Zeitachse gefangen zu sein, nur um ihn zu sehen?
Mit erröteten Wangen wandte sie den Blick ab. „Ich dachte, du brauchst vielleicht Hilfe.“
Auch wenn er ihre Entscheidung nicht nachvollziehen konnte, war Oliver dankbar, dass sie gekommen war. Bedeutete das womöglich, dass sie ihn liebte? Ihm fiel kein anderer Grund ein, warum man ein solches Opfer für einen anderen Menschen bringen sollte.
Ihm wurde warm ums Herz. Schnell wechselte er das Thema.
„Wie war deine Reise? Ich hoffe du bist unversehrt“, sagte er.
Esther rieb sich den Bauch. „Ehrlich gesagt ist mir ziemlich schlecht geworden. Und ich habe Kopfschmerzen. Aber sonst geht es mir gut.“
Oliver dachte an sein Amulett. Er wollte es Esther zeigen und nahm es vom Hals. „Schau mal, Professor Amethyst hat mir das hier gegeben, bevor ich gegangen bin.“
Esther ließ vorsichtig ihre Finge darüber gleiten. „Ein Portal-Detektor! Er wird heiß, wenn ein Wurmloch in der Nähe ist, oder?“ Sie lächelte. „Vielleicht bringt er uns eines Tages zurück zur Schule.“
„Seit ich hier bin, ist es eisig kalt geblieben“, entgegnete Oliver betrübt.
„Keine Sorge, wir haben jede Menge Zeit“, sagte sie und lächelte über ihren eigenen Witz.
Oliver lachte.
„Ich habe eine neue Mission“, sagte Oliver dann.
Esther sah ihn aufgeregt an. „Wirklich? Was ist es?“
Oliver zeigte ihr den Kompass. Esther bewunderte ihn staunend.
„Der ist wunderschön. Was hat er zu bedeuten?“
Oliver zeigte auf die hieroglyphenähnlichen Symbole. „Ich glaube, er bringt mich zu meinen richtigen Eltern. Schau dir das hier an.“ Er zeigte ihr das Symbol für die Frau und den Mann, die sich an den Händen hielten. „Es ist das einzige, das sich noch nicht verändert hat. Die anderen Symbole bewegen sich immer so, dass ich einen Anhaltspunkt bekomme, wohin ich als nächstes gehen muss.“
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