„Oh Oliver! Das ist so aufregend! Was ist dein nächstes Ziel?“
Er zeigte auf das Eichenblatt. „Boston.“
„Warum gerade Boston?“
„Ich bin nicht sicher, aber ich soll dort jemanden treffen, der mich vielleicht zu meinen Eltern führen kann“, erklärte Oliver und steckte den Kompass wieder in die Hosentasche.
Esther nahm seine Hand. „Dann lass uns gehen.“
„Du willst mitkommen?“
„Ja“, sagte sie schüchtern. „Wenn du mich mitnimmst.“
„Natürlich!“
Oliver grinste. Auch wenn er nicht nachvollziehen konnte, wie Esther so gelassen hinnehmen konnte, dass sie vielleicht für immer in der falschen Zeit feststeckte, gab ihre Anwesenheit ihm doch neue Kraft. Alles erschien ihm plötzlich viel hoffnungsvoller und schicksalhafter. Mit Esther an seiner Seite war er noch stärker und seine Suche würde auch viel mehr Spaß machen.
Sie gingen die Treppe hinunter und ließen die Campbell Junior High hinter sich. Seite an Seite gingen sie in Richtung Bahnhof. Esthers Hand fühlte sich warm und weich an. Sie beruhigte ihn.
Obwohl es ein kühler Oktobertag war, war ihm überhaupt nicht kalt. Ihre Nähe hielt ihn warm, so sehr freute er sich, sie zu sehen. Aber gleichzeitig befürchtete er, dass sie nur eine Fata Morgana war, die jeden Moment verschwinden könnte. Während sie nebeneinander hergingen, sah er sie immer wieder an, nur um sicherzustellen, dass sie wirklich echt war. Jedes Mal schenkte sie ihm ihr süßes, schüchternes Lächeln, und ihm wurde aufs Neue ganz warm ums Herz.
Sie erreichten den Bahnhof und gingen zum Bahnsteig. Oliver hatte noch nie zuvor ein Zugticket gekauft. Der Fahrkartenautomat sah irgendwie einschüchternd aus. Aber dann dachte er daran, wie er eine Bombe entschärft hatte. Ganz sicher konnte er herausfinden, wie man diesen Automaten bediente.
Bald hatte er zwei Tickets nach Cambridge, Boston, gekauft. Er entschied sich vorerst nur für eine einfache Fahrt, da er keine Ahnung hatte, ob er jemals nach New Jersey zurückkehren würde. Der Gedanke beunruhigte ihn etwas.
Der Zug nach Cambridge würde über vier Stunden dauern. Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, beobachteten sie, wie er auf den Gleis einfuhr. Dann stiegen sie ein und suchten sich einen ruhigen Platz, an dem sie es sich für die lange Reise gemütlich machten.
„Wie geht es den anderen?“, fragte Oliver. „Ralph, Hazel, Walter und Simon?“
Esther lächelte. „Es geht ihnen gut. Aber sie vermissen dich. Vor allem Walter. Er hätte dich zu gerne wieder bei Switchit dabei.“
Oliver lächelte. Er vermisste seine Freunde auch.
„Und die Schule ist sicher? Keine Angriffe mehr?“, fragte er zögerlich.
Die Erinnerung an Lucas und seine Armee von bösartigen Sehern bereitete ihm Gänsehaut. Auch wenn er vorerst in dieser Zeitachse gefangen war, hatte Oliver das Gefühl, dass er den bösen alten Mann nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
„Nein, keine Angriffe mehr von Fledermäusen mit leuchtenden Augen“, entgegnete Esther.
Oliver dachte an diesen schrecklichen Moment während ihres ersten Dates. Sie waren durch die Gärten spaziert und Esther hatte ihm von ihrem Leben, ihrer Familie und ihrer Kindheit in New Jersey in den 70er Jahren erzählt, als der Angriff sie überraschte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihr Gespräch nie zu Ende geführt hatten. Es hatte sich keine Gelegenheit mehr gegeben, über ihr Leben vor der Schule zu reden und sie besser kennen zu lernen.
„Wir kommen aus derselben Gegend, oder?“, fragte er.
Sie schien überrascht, dass er sich daran erinnerte und sie gerade jetzt darauf ansprach. „Ja, aber wir waren um die dreißig Jahre auseinander.“
„Findest du es nicht komisch, durch die vertrauten Straßen zu gehen, aber alles ist anders, weil so viel Zeit vergangen ist?“
„Seit ich auf die Schule für Seher gehe, finde ich gar nichts mehr komisch“, entgegnete sie. „Ich habe eher Angst davor, mir selbst zu begegnen. Stell dir das mal vor! Ob die Dimension dann zusammenbricht?“
Oliver überlegte. Ihm fiel ein, dass Lucas als alter Mann in die Vergangenheit gereist war, um seinem jüngeren Ich in seine Machenschaften hineinzuziehen. „Ich glaube, es passiert nichts. Zumindest so lange du nicht merkst, dass du es bist. Ergibt das Sinn?“
„Ich glaube, ich will es lieber nicht riskieren“, sagte sie daraufhin.
Oliver beobachtete, wie ihr Gesichtsausdruck ernst wurde. Etwas beschäftigte sie.
„Wärst du nicht neugierig, deine Familie oder dich selbst zu treffen?“, fragte er.
Schnell schüttelte sie den Kopf. „Ich habe sieben Geschwister, Oliver. Wir haben uns immer nur gestritten und ich war immer der Außenseiter. Meine Eltern haben auch viel gestritten – meinetwegen. Sie dachten immer, dass etwas nicht stimmt mit mir.“ Ihre Stimme wurde leise. „Es ist besser, dass ich nicht mehr bei ihnen bin.“
Oliver konnte ihre Gedanken gut nachempfinden. Er hatte selbst alles andere als eine glückliche Kindheit erlebt, umso mehr Mitgefühl hatte er für Menschen, denen es ähnlich ergangen war.
Er dachte darüber nach, dass eigentlich alle Kinder an der Schule für Seher ihre Familien zurückgelassen hatten. Als er selbst dort war, hatte er sich gefragt, ob wohl keiner von ihnen einsam war oder Heimweh hatte. Vielleicht war keiner von ihnen aus glücklichen Familien. Vielleicht war es das Schicksal aller jungen Seher, dass ihre Eltern misstrauisch und ihre Kindheit unglücklich waren.
Esther sah ihn an. „Glaubst du, dass deine echten Eltern dich und deine Besonderheiten akzeptieren werden?“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch gar nicht darüber nachgedachte hatte. Sie hatten ihn irgendwann im Stich gelassen, oder etwa nicht? Vielleicht hatten sie gespürt, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmte und es hatte ihnen Angst gemacht!
Doch dann dachte er an die Visionen, in denen er ihnen begegnet war. Sie waren liebevoll und gütig. Sie hatten ihm gesagt, dass sie ihn liebten und immer bei ihm waren, dass sie über ihn wachten und eines Tages mit ihm vereint wären. Sie würden sich ganz bestimmt freuen, ihn bei sich zu haben.
Oder bildete er sich das alles nur ein?
„Davon bin ich überzeugt“, sagte er mit fester Stimme, auch wenn ihm zum ersten Mal Zweifel kamen. Was wäre, wenn er diese ganze Mission vollkommen missverstanden hatte?
„Was wirst du tun, wenn du sie gefunden hast?“, fragte Esther dann.
Oliver überlegte. Es musste einen Grund geben, warum sie ihn als Baby verlassen hatten und nie nach ihm gesucht hatten. Warum waren sie jetzt nicht bei ihm?
Er sah Esther lange an. „Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht.“
Schweigend blickten sie aus dem Fenster. Der Zug fuhr gemächlich durch die Landschaft und wiegte sie sanft hin und her.
Irgendwann kam die historische Altstadt von Boston in Sicht. Sie war bezaubernd, wie in einem alten Film. Oliver war aufgeregt. Er wusste zwar nicht, was passieren würde, wenn er seine richtigen Eltern gefunden hatte, aber er konnte es kaum erwarten, sie endlich zu treffen.
„Nächste Haltestelle: Boston“, kündigte eine Männerstimme über Lautsprecher an.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, klopfte Olivers Herz bis zum Hals. Die Familie Blue war nie mit ihm verreist, und war es für ihn besonders aufregend, in Boston zu sein.
Sie stiegen aus dem Zug und gingen in den geschäftigen Bahnhof. Dort war es großartig! In der Halle standen Marmorsäulen und Skulpturen. Menschen in Geschäftsanzügen eilten umher und sprachen lautstark in ihre Handys. Oliver war überwältigt
„Von hier aus sind es etwa zwei Meilen zur Harvard Universität“, sagte er. „Wir müssen nach Norden gehen und den Fluss kreuzen.“
„Sagt das dein Kompass?“, fragte Esther.
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